Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2020; 25(02): 65-66
DOI: 10.1055/a-1108-8598
Herausgeberkommentar

Misstrauen als Gestaltungsprinzip – die aktuelle Gesetzgebung auf dem ordnungsökonomischen Irrweg

Mistrust as a design principle – the current legislation is on the wrong track regarding to economy
Herbert Rebscher

20 Gesetze in 20 Monaten und noch weitere in Vorbereitung – diese Legislaturperiode ist von einer gesundheitspolitischen Fließbandgesetzgebung geprägt. Dafür heimst der Minister respektvolle Anerkennung der Gazetten ein: fleißig, aktiv, furchtlos! Und er empfiehlt sich ganz nebenbei (oder ist es das eigentliche Ziel?) für höhere politische Aufgaben.

Allerdings: Sind Quantität und Schnelligkeit entscheidend, oder sind sie gar ein Maßstab für Qualität? Was wurde inhaltlich wirklich bewegt? Wo wird sich die Versorgung konkret und nachhaltig verbessern? Und vor allem auch: Wurden die Anreize wirklich so justiert, dass die Akteure sich zielkonform verhalten? Nur wenn das gelingt, wächst die Akzeptanz bei den Beteiligten und das Vertrauen der Betroffenen – beides sind Grundbedingungen für die Selbststeuerung des Systems.

Zunächst: In jedem dieser Gesetze gibt es sinnvolle, wichtige und notwendige Regelungen, die an aktuellen Problemlagen festmachen und (politisch durchaus geschickt vermarktet!) den öffentlichen Diskurs bestimmten. Dass sie in der Regel mit viel Geld der Beitragszahler „erkauft“ werden, ist zwar unter Fachleuten unstrittig und in den aktuellen Finanzprognosen auch sichtbar, wird aber erst in Zukunft spürbar. Ob dann der ursächlich Verantwortliche noch benannt wird, ist mindestens zweifelhaft – auch das ist ein nachvollziehbares und vielfach erprobtes politisches Kalkül.

Was aber ist das verbindende Element hinter diesen Einzelmaßnahmen? Gibt es so etwas wie ein gesundheitspolitisches Konzept? Gibt es eine ordnungsökonomische Leitlinie zur Weiterentwicklung des Systems? Da wird es schwierig, weil Gegensätzliches, ja Unvereinbares, auf verwirrende Weise munter vermengt wurde. Verbindend und handlungsleitend erscheint lediglich ein abgrundtiefes Misstrauen in die verantwortlichen Akteure auf den Versicherungs-, Versorgungs- und Behandlungsmärkten des Systems, ein Misstrauen in nicht staatlich gefundene Lösungen und ein Misstrauen in die Institutionen der sozialen, berufsständischen und gemeinsamen Selbstverwaltung. Sicher, Anlass zur Kritik boten alle Systembeteiligten zuhauf: zu langsam, zu wenig innovativ, nicht lösungsorientiert, im Besitzstand verharrend… Wohlfeile Vorwürfe, populär und nie ganz falsch, aber als Grundlage für gesetzgeberische Interventionen gänzlich unbrauchbar. Ja klar, eine Debatte über funktionale Zuständigkeiten, Verfahrensregeln, Fristen und vor allem Konfliktlösungsinstrumente wäre angemessen gewesen. Aber die Gesetze atmen stattdessen den Geist kleinlicher, kleinteiliger und kleinmütiger staatlicher Willkür ohne inhaltliche Perspektive.

Und sie suchen Lösungen gerade dort, wo die Probleme im Kern herrühren: in einer weithin ungeklärten Rolle staatlicher Eingriffe in ein zwar reguliertes, aber im Wesentlichen auf Wettbewerb der Beteiligten gründendes System. Von Wettbewerb ist nur noch in relativierenden Konnotationen die Rede; immer dann, wenn die nächste Ersatzvornahme angedroht wird. Nichts zur Rolle und Funktion wettbewerblicher Suchverfahren und ihren Bedingungen, nichts zur zentralen Bedeutung von Innovations- und Qualitätswettbewerb, nichts zu den Folgen eines verzerrenden Preiswettbewerbs nicht nur bei den Kassen und auch nichts zur Funktion von Wettbewerb zur Marktbereinigung. Stattdessen viel und fragwürdige Regulation und Finanzverschiebungen.

So sollen Beitragsmittel der Krankenversicherung weiter zum Teil die Investitionsmittel der Bundesländer ersetzen, die nun über Jahre schon rechtswidrig dem System vorenthaltenen wurden.

So wird das auch international beachtete und geschätzte DRG-System nicht etwa systematisch weiterentwickelt, z. B. durch den Einbezug der notleidenden Investitionsfinanzierung, sondern wird durch die willkürliche Herausnahme der Pflegeaufwände in seiner Substanz beschädigt und zum Spielball weitergehender Deformationen.

Da wird das gesamte Krankenhausmanagement kurzerhand für unfähig erklärt und durch Personaluntergrenzen (warum eigentlich nur bei der Pflege?) und zwingende Tarifverträge zum „richtigen“ Handeln erzogen. Die entstehenden Kosten werden natürlich voll aus Beitragsmitteln erstattet und Kollateralschäden in der Rehabilitation und der Altenpflege in Kauf oder zum Anlass von Folgeregulierungen genommen.

Im ambulanten Bereich werden kleinteilige Eingriffe in die Praxisführung (Mindeststunden, Terminvergaben, Wartezeiten) verfügt, ohne die wahren Gründe für gefühlte Missstände zu berücksichtigen und anzugehen. Dafür werden kleinliche Vorgaben bis hin zur Honorierung und den Reisekosten für Schiedsämter im Gesetz platziert. Ob die Instrumente Wirkung entfalten, scheint kaum noch zu interessieren.

Da sollte der G-BA nicht so methodengeleitet und gründlich auf Evidenz achten, sondern schneller und vor allem politisch kompatibler entscheiden, ansonsten … Ersatzvornahme. Nur dank der beherzten Interventionen des unabhängigen Vorsitzenden des G-BA und des Präsidenten des Bundessozialgerichtes konnte Schlimmeres verhindert werden. Dafür wurde – Strafe muss sein – die Nutzenbewertung der Gesundheits-Apps kurzerhand auf das staatliche BfArM verlagert.

Schließlich sollte auch bei der Krankenversicherung, wenigstens nach den ursprünglichen Plänen, so richtig aufgeräumt werden. Die Selbstverwaltung beim GKV-SV, die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung, das Organisationsrecht der Kassen, das Aufsichtsrecht der Länder, alles stand zur Disposition. Die dazu nun gefundenen Kompromisse mindern nicht, sie potenzieren die Nachteile der Ursprungsidee: beim GKV-SV wird ein zusätzliches Gremium ohne Entscheidungskompetenz eingeführt, was zu noch mehr Beratungszeit und -aufwand führen wird. Der Medizinische Dienst wird aus der Krankenversicherung herausgelöst (allerdings weiterhin von ihr finanziert) und damit deren wettbewerbsübergreifende medizinische Kompetenz willkürlich und sachfremd geschwächt. Beim Organisationsrecht bleibt alles beim Alten und die unterschiedlichen Aufsichtsinteressen bleiben natürlich auch unangetastet. Ein gesetzgeberischer Fehlschlag auf ganzer Linie.

Überhaupt, der intellektuelle Höhepunkt der gegenwärtigen Gesetzgebung scheint regelhaft mit der vollmundigen und oft auch aggressiven Argumentation bei der Vorlage der Gesetze zusammenzufallen. Was nach dem Struck‘schen Diktum, wonach kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineinkommt, zwar nicht verwundert, die fast widerstandslose Akzeptanz interessengeleiteter Änderungen aber noch einmal letzte Spuren eines etwaigen Konzeptes verwischen lässt.

Was bleibt? Ein tiefer Frust bei den verantwortlichen Akteuren des Systems, lustlose Umsetzung der sie nicht überzeugenden und als bürokratisch empfundenen Vorgaben, kaum Akzeptanz und weiteres Zementieren der Besitzstände. Die Lust, das Wagnis wettbewerblicher Suchprozesse einzugehen, droht zu ersticken. Sie gilt es aber neu zu beleben, so wie im Jahre 2004, als eine „Kultur des Experiments“ (so der Sachverständigenrat) kurzzeitig auflebte und politisch gefördert wurde. Dazu ist auch die Gesundheitsökonomie gefordert, nicht in der Perfektionierung methodischer und technischer Einzelfragen, sondern in der Fähigkeit den Blick auf das Ganze zu richten und ein wettbewerbliches und innovatives System zu entwickeln. Ordnungsökonomie, so entwickelte sich unser Fach, dazu müssen wir wieder zurückkommen und inhaltliche Beiträge leisten, sonst ergeht sich Gesundheitspolitik weiter in ihrer Interventionsspirale.

Prof. Dr. Herbert Rebscher



Publication History

Article published online:
27 April 2020

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