Balint Journal 2020; 21(01): 31
DOI: 10.1055/a-1110-3608
Leserbrief
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Antworten von W. Schüffel und E. Geyer zum Leserbrief von Heide Otten, Balint-Journal 2/2019; 20: 55–56

Michael Geyer
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Publication Date:
26 March 2020 (online)

Antworten von W. Schüffel und E. Geyer zum Leserbrief von Heide Otten, Balint-Journal 2/2019; 20: 55–56

Liebe Frau Otten,

zugegeben, der Artikel ist keine leichte Kost, vielleicht auch eine Zumutung. Da versuchen 3 „alte Männer“, wie Sie uns mit naheliegender Assoziation an den neulinken identitätspolitischen Begriff der „alten weißen Männer“ kennzeichnen, aus jeweils unterschiedlicher Perspektive und eher weitschweifig herauszufinden, was sie verbindet.

Die Entwicklung der Psychosomatik in Deutschland, von Ihnen als Gegenstand der „Balintarbeit“ identifiziert, dient dabei höchstens als eine von mehreren Hintergrundfolien. Wenn überhaupt ein übergreifendes Thema zu erkennen ist, dann doch eher die durchaus fragwürdigen Versuche von uns dreien, jeweiligen Zeitströmen in Medizin und Gesellschaft die Stirn zu bieten. Dass wir nicht müde werden, uns zu versichern, wir seien dabei nicht ganz erfolglos gewesen, könnte natürlich zynisch kommentiert werden. Das war zu erwarten. Aber wenn ich lese, wie Werner Stucke, mein leider früh verstorbener Kollege und verlässlicher Mitstreiter bei fach- und berufspolitischen Kämpfen der Wendezeit, unseren Text kommentiert hätte, verwundert mich das schon.

Noch eine Richtigstellung: Mein Schriftwechsel mit dem Erstautor war ursprünglich keineswegs als Einstieg in einen und gar nicht in diesen „Trilog“ gedacht. Meine aus dem Anfang des Mailverkehrs zitierte (durch Ihren Klammerzusatz tendenziös veränderte) Bemerkung über den westdeutschen Soziologen, der etwas „nicht kann“, sollte damals – das kann man leicht nachvollziehen, wenn man das Originalzitat im Artikel liest – einen Kollegen aus der Schusslinie nehmen, der offensichtlich weder Lust noch das notwendige Hintergrundwissen hatte, die eindringlichen Fragen meines Briefpartners Wolfram Schüffel nach Verhältnissen im Osten vor der Wiedervereinigung zu beantworten. Sie machen daraus: „Da fällt gleich zu Beginn eine kras se Behauptung und erweckt mein Interesse in der Außengruppe: ‚Er kann das als Westdeutscher nicht (verstehen) ...‛ Ende der Diskussion? Hier wird Empathie, sich einfühlen können, einen Perspektivwechsel vornehmen können grundsätzlich in Frage gestellt, als unmöglich beschrieben“.

Tatsächlich lautete mein Text: „Deine Mail an den Soziologen, in der Du von ihm verlangt hast, Stellung zu Traumafragen, dem Verhältnis Mann/Frau, Kindererziehung (Krippen und Auswirkungen) und Holocaust in der DDR zu nehmen, trifft meines Erachtens den Falschen. Er kann das als Westdeutscher nicht, […]“.

Dass er es nicht verstehen könnte, habe ich weder gesagt noch gemeint. Mein Text bezog sich auf meinen Eindruck, Wolfram Schüffel überfordere den Kollegen, der als nicht im Osten Sozialisierter keine genauere Kenntnis von den genannten Themen oder Beschäftigung mit ihnen hatte, letzteres aber benötigen würde, um solche Fragen zu beantworten.

Es entsteht der Eindruck, ich hätte im Sinne „Nur Ostdeutsche verstehen Ostdeutsche“ eine eigene ostdeutsche Autonomie der Kultur und Deutungsmacht beansprucht und damit den (interkulturellen?) Dialog abgewürgt, indem ich etwas für andere unverstehbar Besonderes an die Stelle des geteilten Gemeinsamen setze. So etwas erschiene mir, und da stimmen sie mir vielleicht zu, zutiefst rückwärtsgewandt und antiaufklärerisch und entspricht jedenfalls nicht meiner Haltung. Um Menschen anderer Sozialisation zu verstehen und uns in ihre Welt einzufühlen, bedarf es allerdings nicht nur unvoreingenommener Zuwendung und Neugier, sondern mitunter auch einer gehörigen Portion Hintergrundwissen. Und Perspektivenwechsel täten immer gut.

Mit freundlichen kollegialen Grüßen
Ihr
Michael Geyer