Aktuelle Urol 2021; 52(01): 1-2
DOI: 10.1055/a-1252-8645
Editorial

Digitale Fortbildung: Mind-breaker oder Revolution?

Stephan Roth
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Prof. Stephan Roth

In Zeiten, in denen keine Kongresse mehr stattfinden können, fehlt das persönliche Gespräch und die Begegnung. Aber ist das wichtig? Es geht doch digital genauso gut oder vielleicht sogar besser. Ich bleibe im Büro oder zu Hause und bekomme alle Information online. Es ist scheinbar so viel effektiver. Oder ist es ein „mind-breaker“, etwas, das unsere Sinne „benebelt“?

Ich erinnere mich an die 90-ger Jahre, da war ich als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft im europäischen Ausland. Ich hörte von einem bekannten französischen Wissenschaftler, der beschlossen hatte, seine eigene Forschung einzustellen und am Institut Gustave Roussy in Villejuif (Paris) die laufende Forschung zu verfolgen und die Erkenntnisse zusammen zu tragen. Er fand (schon damals), dass so viel geforscht und publiziert wurde, dass einfach zu wenig Zeit blieb, die Erkenntnisse der anderen wahrzunehmen und zu verarbeiten. Sozusagen ein Leser und Denker, der die Synthese suchte.

In gewisser Weise eine beneidenswerte Konsequenz. Prof. Elmar Gerharz aus Frankfurt erzählte mir einmal von einem berühmten englischen Urologen, der sich in der Arbeitswoche immer den Freitag als „Denkertag“ reserviert hatte. Sind wir mit der digitalen Fortbildung diesem Raum der Konzentration einen Schritt näher gekommen? Problemlos klicken wir uns ein und bekommen „Neuerungen“ präsentiert. Und dennoch bleibt bei mir ein ungutes Gefühl. Die Übersetzung des „mind-breakers“ ist dabei mehrdeutig. Sie reicht vom Schutzschalter bis zum Gedankenvernebler.

Die digitale Fortbildung erscheint so effektiv. Aber meist bestimmen einige wenige Meinungsbildner mit enormem technischem und finanziellem Aufwand die Inhalte. Wir verlangen immer bessere statistische Beweise, ob etwas richtig ist. Wer kann das liefern? In den letzten Jahren wird immer auffälliger, dass uns pharmazeutische Konzerne mit neuen Substanzen fluten, die „statistisch einen Vorteil zeigen“. Lebenszeit wird da zu einer rechnerischen Größe, die mit einem hohen Kostenaufwand erzielt wird, oft ohne Berücksichtigung der Lebensqualität.

Bei der Verbreitung dieser Substanzen spielen Meinungsbildner eine wichtige Rolle. Es bleibt kaum noch Zeit, andere Inhalte darzustellen. Denn das Fenster der digitalen Aufmerksamkeit ist klein. Keiner bleibt länger als 1 Stunde vor dem Bildschirm sitzen. Also werden „unbewiesene Erfahrungen und Ergebnisse“ ausgeblendet, sie sind nicht im Fokus der digitalen Veranstalter.

Das betrifft uns Urologen erheblich, denn wir behandeln rund ein Viertel aller Malignome. Als Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft hat Prof. Albers, Ordinarius für Urologie an der Universität Düsseldorf, im Jahre 2018 eine sehr wichtige Rede gehalten. Er hat dabei die Erfolge bei der Vorsorge, Diagnose und Therapie der Krebserkrankung herausgestellt. Aber er mahnt auch ganz eindringlich: „Onkologische Chirurgie – in den Medien nicht sichtbar!“ und belegt das mit einer britischen Untersuchung [1]. Er leitet daraus die Forderung ab, dass dringend pharma-unabhängige Studien in der onkologischen Chirurgie gefördert werden müssen. Denn wenn wir da keine Zahlen liefern, werden wir nicht mehr wahrgenommen.

Wie wohltuend war es früher, auf Kongressen darüber zu streiten, wie man welches operative Verfahren am besten und komplikationsärmsten durchführt. Mein Eindruck ist, dass dies in den letzten Jahren schon auf den „analogen Kongressen“ in den Hintergrund zu rücken drohte. In den letzten Monaten aber gab es kaum digital vermittelte operative, dafür aber viele pharmazeutisch gesponserte Fortbildungen.

Ich will keinesfalls den Wert der pharmakologisch onkologischen Forschungen für die Patient*innen bezweifeln. Aber wir dürfen die operative Onkologie, die wir Urologen betreiben, nicht noch mehr in den Probenraum der Veranstaltungen hinter die Bühne verbannen.

Genau deshalb wünsche ich mir, dass wir uns bald wieder treffen und in verschiedenen Foren debattieren können. Auch mit den operativen „Handwerkern“, deren Erfahrungen – auch wenn sie schwer statistisch beweisbar sind – eine große Bedeutung für unsere Patient*innen haben. Und nochmals sei an Prof. Albers Mahnung erinnert – wir brauchen dringend mehr Studien, die den Wert der onkologischen Chirurgie zahlenfest machen. Sonst werden wir von den „intravenösen und oralen Onkologen“ mehr und mehr zur „Paravasation“ erklärt.

Ich freue mich auf ein Wiedersehen

Stephan Roth



Publication History

Article published online:
01 February 2021

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  • Literatur

  • 1 Lewison G. et al. „How do the media report cancer research?“ A study of the UK’s BBC website. British Journal of Cancer 2008; 99: 569-576