Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89(03): 80
DOI: 10.1055/a-1367-2690
Buchbesprechung

Mit einem Bein bereits im Himmel

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Die meisten Amputierten kennen ihn, den Schmerz in der nicht mehr vorhandenen Gliedmasse. Der Begriff „Phantomschmerz“ hat seinen Weg auch in den Wortschatz von nicht Betroffenen gefunden. Die Möglichkeit, dass ein physisch nicht mehr vorhandener Körperteil weh tun kann, fasziniert allgemein.

Kai-Uwe Kern, Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeinmedizin, fasst Patientenberichte aus zwanzigjähriger Schmerztherapiepraxis zusammen und macht klar, dass sein Buch „ausdrücklich nicht als rein wissenschaftlicher Text“ (S. 21) aufzufassen ist. Wichtiger aber: es soll auch kein Buch über Phantom-Schmerz sein, sondern eine eigentliche Phänomenologie der Phantomwahrnehmung. Nicht alle Amputationsphantome schmerzen, die grosse Mehrzahl macht sich durch schmerzfreie Präsenz bemerkbar: durch präzise Lokalisierbarkeit im Raum, durch „Ausfüllen“ einer Prothese, durch Beweglichkeit (unwillkürlich bei spontaner Gestik oder willkürlich beim Zählen mit Phantomfingern). Eine Phantomhand kann direkt unterhalb des Oberarmstumpfes erfahren werden, ein Phantombein kann verschwinden, wenn ein Objekt an diejenige Stelle im Raum gebracht wird, an der es gespürt wird. Packende Erlebnisberichte aus erster Hand illustrieren die Vielfalt individueller Phantomwahrnehmungen und der Verfasser hilft, die Systematik dahinter zu erkennen.

Der Autor räumt auch mit stereotypen Assoziationen auf: nicht bloss medizinische Laien, auch die meisten Ärzte und Psychologen denken beim Begriff „Phantom“ automatisch auch an den Begriff der Amputation. Phantomwahrnehmungen setzten jedoch keineswegs eine Amputation voraus. Sie treten beim Paraplegiker auf und als „überzählige Phantome“ bei Menschen mit einer kortikalen Läsion; selten werden sie auch bei kongenitalem Fehlen einer Extremität berichtet. Schliesslich betreffen Phantomwahrnehmungen nicht nur die somatosensorische Modalität; Halluzinationen bei peripherer Schädigung des visuellen Systems gelten als visuelle Phantome, Tinnitus wird in der Literatur auch als auditive Phantomerscheinung bezeichnet. Auch Ausserkörperliche Erfahrungen und die Heautoskopie (Verdoppelung des Selbst) kommen zur Sprache. Damit wird eine Brücke geschlagen zu neuropsychiatrischen Phänomenen, die konzeptuell zu Recht als Phantomwahrnehmungen vorgestellt werden und deren neurowissenschaftliche Erforschung besprochen wird.

Einleitend fordert der Autor seine Leser dazu auf, „der Neugier gegenüber Phantomen einfach keine Grenzen zu setzen“ (S. 21). Tatsächlich machen die Fallberichte, untermalt mit Videointerviews in der digitalen Beilage, neugierig auf die Mechanismen, die den einzelnen Erlebensweisen zugrunde liegen. Modelle der kortikalen Plastizität und des Körperschemas und, was den Schmerz betrifft, des Schmerzgedächtnisses, werden vom Verfasser behandelt. Die theoretischen Ausführungen können der Vielfalt der besprochenen Phänomene aber nicht immer Rechnung tragen. Die Neugier des Referenten auf eine integrative Zusammenschau wurde nicht ganz gestillt; lobenswert ist hier allerdings das umfassende Literaturverzeichnis, welches auf Original- und Übersichtsarbeiten, auch neuesten Datums, verweist.

Prof. Dr. phil. Peter Brugger, Valens



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Article published online:
08 March 2021

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