Gesundheitswesen 2022; 84(12): 1101-1106
DOI: 10.1055/a-1397-7731
Originalarbeit

Familie als gesundheitserhaltende Ressource bei Spätaussiedler/innen?! Eine qualitative Studie zu Gesundheitsvorstellungen im Alter

Family as a Health-Maintaining Resource for Late Repatriates? A Qualitative Study of Health Attitudes in Old Age
Tanja Michalik
1   Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Hannover, Deutschland
,
Frauke Koppelin
2   Jade Hochschule Wilhelmshaven/Oldenburg/Elsfleth – Studienort Oldenburg, Bauwesen Geoinformation Gesundheitstechnologie, Oldenburg, Deutschland
,
Ulla Walter
3   Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Hannover, Deutschland
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Hintergrund Im Zuge des demografischen Wandels in Deutschland steigt auch die Zahl der zweitgrößten Migrantengruppe älter werdender Spätaussiedler/innen an. Das Gesundheits- und Inanspruchnahmeverhalten präventiver Maßnahmen von Spätaussiedlerin/innen unterscheidet sich von dem der deutschen Bevölkerung oder Menschen mit einem anderen Migrationshintergrund. Eine wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung zielgruppenspezifischer Präventionsmaßnahmen ist das Wissen über die Gesundheitsvorstellungen der Spätaussiedler/innen.

Ziel der Studie Das Ziel dieser Studie war es, die Bedeutung der Familie sowie vorherrschende Rollenbilder der Spätaussiedler/innen für die Gesundheitsvorstellungen aufzuzeigen.

Methodik Leitfadengestützte Interviews wurden mit 13 Spätaussiedler/innen in Russisch durchgeführt und mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet.

Ergebnisse Die Familie und die Fürsorge für (Enkel-)Kinder stellt sich als zentrales Element der Gesundheitserhaltung der Befragten dar. Es zeigt sich, dass die aus der Sowjetunion mit-gebrachten traditionellen Rollenbilder z. T. erhalten bleiben, z. T. erfahren sie eine Erweiterung durch beider Geschlechter getätigte Fürsorge für die (Enkel-)Kinder.

Schlussfolgerung Für die Gesundheitserhaltung der Spätaussiedler/innen hat der Einbezug der (Enkel-)Kinder eine gesundheitsfördernde Wirkung und kann die Inanspruchnahme präventiver Maßnahmen begünstigen.

Abstract

Background In the context of demographic changes in Germany, it can be observed that the number of older people among the second largest migrant group – the so-called late repatriates – is on the rise. The health and utilisation behaviour of preventive measures by this group differs from that of the German population or people with a different migration background. An essential prerequisite for the design of target group-specific prevention measures is the knowledge of health expectations of the late repatriates.

Goal of the study The goal of this study was to show the importance of the family and the predominant role models of late repatriates in health attitudes.

Method Guided interviews were conducted with 13 late repatriates in Russian and evaluated using the documentary method.

Results The family and the care for (grand-)children was a central element of the preservation of health of the respondents. The traditional role models brought from the Soviet Union were partly preserved and partly (regardless the gender) expanded by the care for the (grand-)children.

Conclusion The involvement of (grand-)children has a health-promoting effect on maintaining health in late repatriates and can encourage their use of preventive measures.



Publication History

Article published online:
29 March 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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