Rehabilitation (Stuttg) 2021; 60(06): 393-400
DOI: 10.1055/a-1467-2065
Originalarbeit

Herausforderungen für die Schwerbehindertenvertretung vor dem Hintergrund der gesetzlichen Neuerungen durch das Bundesteilhabegesetz

Challenges for Representatives of Employees with Severe Disabilities Amid the Legal Reforms Resulting from the Federal Participation Act
Marie Sophia Heide
1   Lehrstuhl für Arbeit und Berufliche Rehabilitation, Universität zu Köln, Deutschland
,
Mathilde Niehaus
1   Lehrstuhl für Arbeit und Berufliche Rehabilitation, Universität zu Köln, Deutschland
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Ziel der Studie Die Schwerbehindertenvertretung hat eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung behinderungsgerechter und inklusiver Arbeitsbedingungen. Durch das Bundesteilhabegesetz wurde dem Rechnung getragen und die Rechte der Schwerbehindertenvertretung wurden ausgebaut. Ziel der vorliegenden explorativen Analyse ist es, die veränderte Rechtsstellung aus Perspektive der Schwerbehindertenvertretung zu beleuchten und Herausforderungen in der praktischen Anwendung der gesetzlichen Neuerungen sowie nicht berücksichtigte Bedarfe aufzudecken. Vor dem Hintergrund, dass Forschung zur Implementation und Evaluation der Sozialgesetzgebung Kernelemente der Rehabilitationsforschung sind, soll eine Lücke zwischen der rechtlichen Implementation und der praktischen Anwendung geschlossen und der Prozess einer lernenden Gesetzgebung vorangebracht werden.

Methodik Deutschlandweit wurden 1552 Schwerbehindertenvertretungen schriftlich mittels Online-Survey befragt. Für die vorliegende Analyse wurden vorrangig die Antworten zu Herausforderungen für die Schwerbehindertenvertretung mit Hilfe der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet und anhand der gesetzlichen Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz analysiert.

Ergebnisse Das Bundesteilhabegesetz wird aus Sicht der Schwerbehindertenvertretungen kritisch gewürdigt. Die Umfragedaten verdeutlichen, dass die Schwerbehindertenvertretungen die gesetzlichen Änderungen in Teilen als nicht umfassend genug bewerten. Einzelne Regelungen, wie die Heranziehung von Stellvertretern und -vertreterinnen und die Absenkung der Freistellungsgrenze, sind nicht weitreichend genug und betreffen nur die Teilgruppe der Vertretungen in großen Betrieben. Bei anderen Rechten wie dem Informations- und Anhörungsrecht fehlen Sanktionsmöglichkeiten bei Nicht-Anwendung der Gesetze durch den Arbeitgeber. Die Einführung der Unwirksamkeitsklausel in Bezug auf Kündigungen wird als nicht ausreichend bewertet.

Schlussfolgerung Zwar werden die Rechte der Schwerbehindertenvertretung durch das Bundesteilhabegesetz ausgebaut, doch gibt es noch Herausforderungen bei der Umsetzung, der Präzisierung und der Verbindlichkeit der einzelnen Neuerungen, die es im Sinne einer lernenden Gesetzgebung zu beachten und weiter zu diskutieren gilt. Auf Grundlage der vorliegenden Ergebnisse bedarf es eines weiteren Einbezugs der Schwerbehindertenvertretungen, um Ansätze zur zielgerichteten Optimierung in der Anwendung sowie der Ausgestaltung der gesetzlichen Neuerungen ableiten zu können.

Abstract

Purpose Representatives of employees with severe disabilities play a key role in achieving inclusive working conditions. This has been taken into account by the Federal Participation Act and the rights of the representatives of employees with severe disabilities have been expanded. The aims of the present exploratory analysis are to clarify the modified legal status from the perspective of the representatives of employees with severe disabilities, to identify challenges in the practical application of the legal reforms and to reveal unconsidered needs. Considering that research on the implementation and evaluation of social legislation are core elements of rehabilitation research, this study intends to close the gap between legal implementation and practical application and aims to advance the process of a learning legislation.

Methods Across Germany, a total of 1552 representatives of employees with severe disabilities were interviewed via online survey. The present analysis focuses on the answers regarding challenges for representatives of employees with severe disabilities. The answers were evaluated according to the content-structuring qualitative content analysis of Kuckartz and analysed with regard to the legal reforms resulting by the Federal Participation Act.

Results The Federal Participation Act is critically evaluated from the perspective of the representatives of employees with severe disabilities. The survey data demonstrate that the representatives of employees with severe disabilities consider parts of the legal reforms not to be comprehensive enough. Certain provisions, such as the consultation of deputies and the lowering of the exemption limit, are seen as not extensive enough and only affect the subgroup of representatives in large companies. Other rights, such as the right to information and consultation, do not include the possibility for sanctions in case of non-application of the law by the employer. The introduction of the invalidity clause regarding terminations is considered insufficient.

Conclusion Although the rights of the representatives of employees with severe disabilities are being expanded by means of the Federal Participation Act, there are still challenges in the implementation, specification and binding nature of the individual reforms, which must be observed and further discussed in the sense of a learning legislation. The present results indicate that further involvement of the representatives of employees with severe disabilities is required in order to derive approaches for targeted optimisation of the application and the design of the legal reforms.



Publication History

Article published online:
31 May 2021

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