Diabetes aktuell 2021; 19(04): 143
DOI: 10.1055/a-1495-6823
Editorial

100 Jahre Insulin

Antje Bergmann
1   Dresden
,
Peter E.H. Schwarz
2   Dresden
› Author Affiliations

Vor einigen Jahren war ich in London in der Zentrale von Diabetes UK. Ich stand vor einer Vitrine, in der der Nobelpreis lag, den Frederick Banting für die Entdeckung und Erstanwendung von Insulin bekommen hat. 1921 wurde das Insulin entdeckt, 1922 der erste Diabetespatient behandelt und 1923 der Nobelpreis an Frederick Banting verliehen, der bis heute der jüngste Nobelpreisträger der Geschichte ist.

Diese Entdeckung hat wahrlich eine Revolution in der Diabetologie ausgelöst – man kann behaupten, dass damit die Diabetologie eigentlich überhaupt erst begründet wurde. Während in anderen Bereichen Entdeckungen aus dieser Zeit schon lange wieder Vergangenheit sind, ist das Insulin eigentlich heute noch genauso wie das Insulin von damals. Natürlich gibt es kleine Modifikationen an Analog-Insulinen und es gibt Präparationen, die länger oder kürzer wirken, aber das Insulin bleibt nun mal Insulin. In den gleichen Jahren, noch 1922 gründete sich die erste Diabetes-Gesellschaft in Europa – in Portugal. Diese Diabetes-Gesellschaft hat sich zum Ziel gesetzt, Insulin auch armen Menschen zugänglich zu machen. Das war damals auch notwendig, da sich arme Menschen das lebensrettende Insulin nicht leisten konnten. Heute leben wir in einem Umfeld, in dem allen Diabetespatienten in Deutschland Insulin zur Verfügung gestellt wird, aber das ist weltweit nicht die Normalität. Die Mehrzahl der Menschen heutzutage lebt immer noch in einer ungewissen Abhängigkeit von Insulin. Insulin ist in vielen Ländern teuer und in einigen Ländern auch gar nicht erreichbar. Das heißt es sterben auch heute noch, genau wie 1922, Menschen an Diabetes, weil sie kein Insulin bekommen. Gerade auch durch Corona kam es zu Situationen, dass Menschen in Afrika oder in Asien, die als Tagelöhner arbeiten, ihre Arbeit verloren, dann kein Geld mehr hatten, um sich ihr Insulin zu kaufen und deshalb verstorben sind. Sicherlich gibt es sehr viele Initiativen – wie zum Beispiel „Insulin zum Leben“, die sich in solchen Fällen engagieren und Insulin für bedürftige Menschen zur Verfügung stellen. Aber denken Sie nur wieder an Corona, wenn internationale Flüge und Lieferketten unterbrochen sind, geht auch das nicht. Wir leben in einem Luxusumfeld, aber sehr viele Menschen auf der Welt mit Diabetes mellitus leben in einer Situation, die nicht viel anders ist als vor 100 Jahren. Ich denke es ist unsere Aufgabe, mit gutem Beispiel zu helfen, dass alle Diabetespatienten weltweit in den Genuss einer „guten“ Diabetologie kommen und dazu gehört die Versorgung mit Insulin. Eigentlich ist es ein Armutszeugnis, dass es 100 Jahre nach der Entdeckung von Insulin immer noch Menschen gibt, die sterben, weil kein Insulin zur Verfügung steht.

Die heutige Entwicklung geht rasant voran, die Digitalisierung wird die Diabetologie revolutionieren – vielleicht nicht so stark wie das Insulin an sich, aber in ähnlichen Dimensionen. Inselzelltransplantationen und verschiedene Formen von Inselersatztherapien können dazu führen, dass Diabetespatienten wieder eigenes Insulin produzieren. Verbesserte Pumpen und digitalisierte Algorithmen können helfen, den Insulinbedarf von Patienten immer besser zu decken. Ultralangwirksame und ultrakurzwirksame Insuline sind in der Lage, sich immer besser an den Alltag des Patienten anzupassen. Insulinpumpen helfen Patienten für einen unabhängigen Alltag und die „Looper“ machen uns vor, dass ein Diabetesalltag mit Insulin ein ganz normaler Alltag sein kann. In diesem Kontext hat sich enorm viel getan, aber das Insulin ist immer noch das gleiche wie vor 100 Jahren.

Wir sollten diesen Jahrestag zum Anlass nehmen, um zu überlegen, welche nicht gelösten Probleme es mit der Anwendung des Insulins gibt. Sicherlich kann man viele Detailprobleme finden, aber in meinen Augen das größte Problem ist, dass – wie schon gesagt – immer noch Menschen sterben, weil sie keinen Zugang zu Insulin haben.



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Article published online:
25 June 2021

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