Zeitschrift für Phytotherapie 2022; 43(01): 32-33
DOI: 10.1055/a-1651-7026
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Nachruf: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hildebert Wagner

Prof. emeritus Dr. rer.nat. Dr. h.c. mult. Hildebert Wagner verstarb am 05.11.2021 im Alter von 92 Jahren in seinem Heimatort Breitbrunn am Chiemsee.

Geboren am 28.08.1929, verbrachte Hildebert Wagner seine Jugend in Bayern. Er studierte Pharmazie in München, promovierte 1956 bei Ludwig Hörhammer und habilitierte 1960. Als „Urbayer“ verdonnerte ihn sein Habilitationsvater zum Sprachtraining von Hochdeutsch mit der Begründung, dass „Studierende die Chance haben müssen, seine Vorlesungen zu verstehen“. Er empfand diese „Anordnung“ als hilfreich und erzählte diese Geschichte uneitel und mit dem ihm eigenen Humor gerne weiter, insbesondere an Mitstreiter*innen, bei denen er den Eindruck hatte, ein Sprachtraining würde ihrer „Karriere“ förderlich sein.

Zur Zeit seiner Habilitation war Werner Heisenberg Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik in München. Hildebert Wagner war tief beeindruckt von dessen Arbeit und sehr stolz, einige der Heisenberg-Vorlesungen gehört haben zu dürfen. Schon hier wurde sein Bild vom „idealen Wissenschaftler“ wesentlich geprägt. Sein Vorbild war ein Wissenschaftler, der sich nicht von „Äußerlichkeiten“ ablenken ließ – der z. B. während des Krieges brennendes Phosphor auf der Straße ignorierte und trotzdem unbeeindruckt den wissenschaftlichen Diskurs mit dem Kollegen auf der „brennenden“ Straße weiterführte. Zum Leidwesen seiner Frau galt diese Fähigkeit, „Unwesentliches“ auszublenden, auch für die Gartenarbeit zu Hause – ganz im Gegensatz zu seiner Leidenschaft für die Aquarellmalerei von Pflanzen, die er bis ins hohe Alter ausübte.

Mit nur 36 Jahren erhielt Hildebert Wagner den Ruf auf den Lehrstuhl für Pharmazeutische Biologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Diese Herausforderung nahm er mit Begeisterung an und prägte als Ordinarius und als geschäftsführender Direktor das Institut für Pharmazeutische Biologie mehr als ein Vierteljahrhundert lang national wie international. 1967 wurde er an der LMU zum Vertrauensdozent für ausländische Stipendiat*innen. Dies war nicht verwunderlich, stammten doch die Arzneipflanzen, die er mit seiner Arbeitsgruppe bearbeitete, aus allen Teilen des Globus. So nahm er gerne Student*innen und Postdocs aus der ganzen Welt in sein Labor auf. Für die Betreuung der Stipendiat*innen wurde bisweilen auch die ganze Familie, insbesondere seine Ehefrau Ursel, eingespannt. Einige seiner Stipendiat*innen wurden in ihren Heimatländern später zu Lehrstuhlinhaber*innen und Institutsleiter*innen, unter anderen Prof. Marie-Aleth Lacaille-Dubois (Dijon, Frankreich) oder Prof. K.K. Bhutani (NIPER, National Institute of Pharmaceutical Education and Research, Chandighar, Indien).

Hildebert Wagners Arbeit galt insbesondere der Etablierung einer evidenzbasierten Phytotherapie als Grundvoraussetzung für die wissenschaftliche Anerkennung der Phytotherapie. Eine seiner frühen Entdeckungen (1968) waren die hepatoprotektiven Eigenschaften von Silymarin aus den Früchten der Mariendistel [1] [2]. Aus dieser Arbeit sind verschiedene pharmazeutische Produkte entstanden. Internationale Anerkennung in der Arzneipflanzenforschung erlangte er aber vor allem durch die Entwicklung seiner Assay-Methoden und durch die systematische Charakterisierung von Arzneipflanzen mittels „Fingerprinting“ [3] [4] [5]. Er erhielt mehrere Ehrendoktorwürden und zahlreiche Preise, u. a. 2002 die Egon Stahl-Medaille der internationalen Gesellschaft für Arzneipflanzenforschung für sein herausragendes Lebenswerk.

Mit besonderem Stolz erfüllte Hildebert Wagner der Erhalt der Ehrennadel und der Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft für Phytotherapie (GPT). In seiner Dankesrede offenbarte er nochmal seinen ursprünglichen Wunsch, Medizin zu studieren und thematisierte das Edikt von Salerno/Melfi [6], mit dem es zur Trennung der Berufsstände der Mediziner und der Pharmazeuten kam, was er sehr bedauerte. Immer wieder bemühte er sich um die Verbindung der Forschungsergebnisse aus der Pharmazie mit denen der Medizin. Heute wird dies als translationale Forschung bezeichnet und gewürdigt.

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Hildebert Wagner (1929–2021)

Gemeinsam mit Prof. Norman Farnsworth (University of Chicago) gründete er 1994 das internationale wissenschaftliche Journal „Phytomedicine“ und war mehr als 25 Jahre lang mit großem Engagement dessen „Editor in Chief“. Mit Norman Farnsworth verband ihn eine langjährige freundschaftliche Konkurrenz, die der Entwicklung des Journals gut tat. Als Editor in Chief konnte er auch seine wissenschaftliche Lehrtätigkeit fortführen. Detaillierte, qualitativ anspruchsvolle und konstruktive Rückmeldungen insbesondere an junge wie auch erfahrene Autoren waren für ihn selbstverständlich. Heute zählt „Phytomedicine“ zu den führenden internationalen Zeitschriften in der Phytotherapie und rangiert im Q1 für integrative und komplementäre Medizin.

Die Arbeit an der Entwicklung von pflanzlichen Medikamenten war seine Leidenschaft – hierbei stand nicht nur die Isolierung und Strukturaufklärung von aktiven Inhaltsstoffen aus der Arzneipflanze im Fokus, sondern ebenso auch die Charakterisierung von Arzneipflanzenextrakten. Das Multitarget-Prinzip war für ihn bereits früh der Schlüssel zur wissenschaftlichen Aufarbeitung und zum Verständnis der Wirkungsweise von pflanzlichen Medikamenten [7].

Hildebert Wagner bleibt bei vielen, die mit ihm zusammenarbeiteten, auch als streitbarer Mensch in Erinnerung – nicht immer über den Dingen stehend, aber immer ein ehrgeiziger und vehementer Kämpfer für die Sache der Phytotherapie, für hohe Qualität und für klare Linien. Er setzte sich engagiert für den Einsatz von Gesamtpflanzenextrakten ein, auch wenn der Mainstream – vor allem in den 1970er- bis 1990er-Jahren – sich auf die Isolierung von Einzelsubstanzen aus den Pflanzenextrakten konzentrierte. Hier hat er früh erkannt, dass der Vorschlag des Einsatzes der „Omic-Technologien“ einen Meilenstein für die Entwicklung einer evidenzbasierten Phytotherapie darstellte [8]. Heute wird der Einsatz dieser Technologien und Methoden immer mehr zum Standard. Die bisher am häufigsten zitierte Einzelveröffentlichung ist „Synergy research: Approaching a new generation of phytopharmaceuticals“ [8] zum Thema „Synergie“ – ein auch für ihn herausforderndes Konzept. Dies hat ihn nicht daran gehindert, sich damit auseinanderzusetzen und die Synergieforschung als zukunftsweisendes interdisziplinäres Feld in der Phytopharmakologie und Phytomedizin anzuerkennen [8] [9].

Obgleich seit 1998 im wohlverdienten Ruhestand, unterhielt Hildebert Wagner noch mehr als 15 Jahre lang ein Labor an der LMU im Fachbereich der Pharmazeutischen Biologie, wo er mit einem kleinen Team weiterhin spannende Forschungsarbeiten durchführte [10]. Diese standen häufig im Zusammenhang mit der Charakterisierung chinesischer Heilpflanzen für die TCM-Klinik Bad Kötzting, an der er auch im wissenschaftlichen Beirat tätig war. Auch zu diesem Themenbereich entstanden Monografien und ein Buch [5] [11].

Hildebert Wagner blieb bis zu seinem Tod unermüdlich als Forscher, Lehrer, vielfacher Buchautor und Mitherausgeber von wissenschaftlichen Journalen aktiv. Als Lehrstuhlinhaber und Wissenschaftler prägte er mehrere Generationen sowohl von Pharmazeut*innen als auch von Wissenschaftler*innen aus weiteren Disziplinen der Naturwissenschaften und der Medizin. Fast 100 Doktorarbeiten sind unter seiner Ägide entstanden. Unter seinen Doktorand*innen und Habilitand*innen sind etliche spätere Lehrstuhlinhaber*innen der Pharmazeutischen Biologie/Pharmakognosie. Hier seien insbesondere Prof. Dr. Angelika M. Vollmar, seine Nachfolgerin an der LMU München, Prof. Dr. Verena Dirsch, Universität Wien, Prof. Dr. Hermann Stuppner, Universität Innsbruck und Prof. Dr. Dr. h.c. Rudolf Bauer, Universität Graz, genannt, die alle mit eigenen Forschungsprofilen neue Akzente im Feld der Pharmazeutischen Biologie bzw. der Forschung an Arzneipflanzen setzen und durch ihre Forschungsergebnisse die evidenzbasierte Phytomedizin weiterentwickeln.

Mit seinem Lebenswerk hinterlässt Hildebert Wagner einen großen und sicherlich noch lange sichtbaren Fußabdruck in der Arzneipflanzenforschung. Allein durch die fünf Lehrstühle, die „seine Münchner Studierenden“ in Europa besetzen, ist und bleibt die Phytotherapie in der Pharmazie exzellent vertreten. Und durch seine zahlreichen Monografien und Veröffentlichungen wird er noch Generationen von Studierenden und Wissenschaftler*innen immer wieder begegnen.

PD Dr. Gudrun Ulrich-MerzenichUniversitätsklinikum Bonn (UKB)AG Synergieforschung und Experimentelle MedizinBonn



Publication History

Article published online:
15 March 2022

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  • Literatur

  • 1 Wagner H, Hörhammer L, Seitz M. Chemical evaluation of a silymarin-containing flavonoid concentrate from Silybum marianum (L.) Gaertn. Arzeimittelforschung 1968; 18: 696-698
  • 2 Wagner H, Hörhammer L, Münster R. On the chemistry of silymarin (silybin), the active principle of the fruits from Silybum marianum (L.) Gaertn. Carduus marianus L.) Arzneipflanzenforschung 1968; 18: 688-696
  • 3 Wagner H, Bladt S, Zgainski EM. Drogenanalyse: Dünnschichtchromato-graphische Analyse von Arzneidrogen. Berlin; Heidelberg: Springer; 1983
  • 4 Wagner H, Bladt S, Zgainski EM. Plant Drug Analysis: A thin layer chromatography atlas. Berlin; Heidelberg: Springer; 1984
  • 5 Wagner H, Bauer R, Melchart D, Xiao PG, Staudinger A. et al. Chromatographic Fingerprint Analysis of Herbal Medicines. Thin-layer and high performance liquid chromatography of Chinese drugs. Volume I–V. Wien: Springer; 2011–2018
  • 6 Schmitz R. Geschichte der Pharmazie 1. Eschborn: Govi; 1998
  • 7 Wagner H. Multitarget therapy - the future of treatment for more than just functional dyspepsia. Phytomedicine 2006; 13: 122-129
  • 8 Ulrich-Merzenich G, Zeitler H, Panek D, Wagner H, Vetter H. New perspectives for synergy research with the “omic”-technologies. Phytomedicine 2009; 16: 495-508
  • 9 Wagner H, Ulrich-Merzenich G. Synergy research: Approaching a new generation of phytopharmaceuticals. Phytomedicine 2009; 16: 97-110
  • 10 Vollmar AM, Dirsch V, Stuppner H, Bauer R. Laudatio: Professor Dr. Dr. h. c. mult. Hildebert Wagner zum 90. Geburtstag. Deutsche Apotheker Zeitung 2019, Nr. 35, S. 77, 29.08.2019
  • 11 Wagner H, Ulrich-Merzenich G. eds. Evidence and rational based research on Chinese drugs. Wien: Springer; 2013