Die Wirbelsäule 2022; 06(02): 67-68
DOI: 10.1055/a-1677-1437
Referiert und kommentiert

Kommentar zu: Degenerative zervikale Myelopathie: Wer profitiert von einer Dekompression?

Christoph Griessenauer
1   Universitätsklinik für Neurochirurgie, Christian Doppler Klinik - Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg, Österreich
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Bei älteren Patienten ist die degene rativ bedingte zervikale spondylotische Myelopathie die häufigste Ursache für Funktionsstörungen des Rückenmarks. Die Symptome beginnen meist schleichend und umfassen ein instabiles Gangbild, Taubheitsgefühl und Ungeschicklichkeit in Händen und Fingern, Schwäche in den Extremitäten, in den unteren Extremitäten oft proximal betont, Nackensteifigkeit und Schmerzen im Hals und den Armen. Neben der muskulären Schwäche und Taubheit findet sich bei der neurologischen Untersuchung mitunter eine Atrophie der Handmuskulatur, eine Hyperreflexie und Klonus sowie ein positives Lhermitte Zeichen. In der Magnetresonanztomografie zeigt sich eine Verengung des zervikalen Spinalkanals durch Osteophyten, Bandscheibenvorfälle und Ligamentum flavum-Hypertrophie mit Rückenmarkskompression. Die chirurgische Entlastung ist die einzige Option die Kompression des Rückenmarks zu beheben [1].

Die Frage, ob und zu welchem Zeitpunkt im Krankheitsverlauf die chirurgische Dekompression mit oder ohne Spondylodese indiziert ist, ist v.a. bei der milden und moderaten Form dieser Erkrankung, die bei einer Mehrzahl der Patienten vorliegt, nicht ausreichend geklärt und ganz entscheidend vom natürlichen Verlauf und Neigung zur Progression abhängig. Eine Studie, die in diesem Zusammenhang zu Recht häufig zitiert wird, ist eine randomisiert kontrollierte Studie von 2000 die das chirurgische und nicht chirurgische Management von Patienten mit milder und moderater Myelopathie verglichen hat und keinen Benefit der Chirurgie in den ersten 2 Jahren zeigen konnte. Von den 48 randomisierte Patienten wurden 27 konservativ und 21 chirurgische behandelt [2]. Auch eine Folgestudie der gleichen Autoren über einen Zeitraum von 10 Jahren erweitert auf 64 Patienten zeigte keinen Vorteil für die Chirurgie [3]. Ob die Studien einfach „underpowered“ waren, um eine Überlegenheit der Chirurgie zu beweisen, oder es wirklich keinen Unterschied macht, ob diese Patienten operiert werden oder nicht, kann nicht mit letztendlicher Sicherheit festgestellt werden, allerdings liegt die Annahme nahe, dass der Effekt der Chirurgie wohl eher marginal ist.

Dementgegen stehen eine Reihe von Registry-Studien, die höhere Patientenzahlen aufweisen, allerdings keine randomisierte Kontrollgruppe haben. Daten von dem prospektiven AOSpine Registry haben gezeigt, dass auch bei milder Symptomatik die operative Entlastung mit Verbesserung der Funktionalität und Lebensqualität einhergeht [4]. In eine ähnliche Kerbe schlägt die hier zusammengefasste Studie von Karim et al., die Daten von Patienten mit zervikale spondylotische Myelopathie aus dem Canadian Spine Outcomes and Research Network (CSORN) analysiert hat [5]. Insgesamt wurden 391 Patienten ausgewertet, wovon 110 (28,1%) milde und 163 (41,7%) moderate Symptomatologie aufwiesen. Mindestens 12 Monate Nachsorge war bei 302 (77,2%) Patienten vorhanden. Während milde Patienten einen modified Japanese Orthopaedic Association (mJOA) Wert von ≥ 15 hatten lag dieser Wert bei moderaten Patienten zwischen 12 und 14. Die Studien von Kadaňka et al. hatten ebenfalls Patienten mit mJOA von 12 oder höher randomisiert [2] [3]. Karim et al. konnten zwar zeigen, dass sich die Lebensqualität verbessert, eine klinisch relevante Steigerung des mJOA blieb aber aus. Der zu erwartende Benefit der Chirurgie war ganz entscheidend mit der Schwere der Grunderkrankung assoziiert und bei der schwersten Form der Erkrankung am höchsten. Obwohl das CSORN auch nicht operative Patienten beinhaltet, ist die Anzahl derer bisher zu gering, um sie für eine Analyse heranzuziehen.

Auch wenn nach wie vor der Nutzen der Chirurgie bei milder Symptomatik nicht ganz klar ist, kann man festhalten, dass diesen Patienten auf jeden Fall versichert werden sollte, dass der Verlauf ihrer Erkrankung allenfalls sehr langsam voranschreitet. Die im klinischen Umfeld immer wieder getätigte Aussage, dass Patienten mit zervikaler spondylotischer Myelopathie unverzüglich operiert werden müssen, weil sie sonst gelähmt würden, ist jedenfalls unzulässig und folgt keinerlei Evidenz. Die Entscheidung Patienten mit milder Symptomatik zu operieren, soll auch im Anbetracht möglicher Komplikationen getroffen werden. In der Studie von Karim et al. traten 25,8% (31/120) aller Komplikationen („adverse events“) bei diesen Patienten auf, nur etwas geringer als die Rate bei moderater (41,7%; 50/120) und schwerer (32,5%; 39/120) Symptomatik [5]. Auch wenn man Kadaňka et al. durchaus dafür kritisieren kann, dass milde und moderate Symptomatik unter einen Hut genommen worden, und weniger „patient-reported outcome measures (PROM)“ erhoben wurden, muss man die Studienergebnisse doch anerkennen. Im Gegensatz zu den Registries haben diese Studien eine Kontrollgruppe eingeschlossen, Datenpunkte die bei Karim et al. [5] sowie AOSpine [4] schmerzlich vermisst werden. Dementsprechend sollte der chirurgische Eingriff bei milder Symptomatik sehr gut überlegt und mit dem Patienten abgestimmt sein und dem Patienten auch die Option eingeräumt werden, vorerst konservativ vorzugehen und eine etwaige Verschlechterung der Erkrankung abzuwarten.



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Article published online:
17 May 2022

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