physioscience 2022; 18(01): 1-3
DOI: 10.1055/a-1694-7260
Editorial

Bedarfe für die physiotherapeutische Praxis: der Paradigmenwechsel von biomedizinischer zu biopsychosozialer Forschung

Claudia Pott

Im Herbst 2021 rollte über Deutschland die vierte Corona-Welle. Deutsche Forschende beteiligten sich jedoch kaum an der internationalen klinischen Covid-19-Forschung, schrieb ein Team aus Deutschland und der Schweiz der Covid-evidence-Non-Profit-Initiative [1]. Nur 65 der 3000 in 2020 registrierten Studienprotokolle für randomisiert kontrollierte Studien stammten bis dahin aus Deutschland oder entstanden unter Beteiligung deutscher Forscher*innen. Die Mehrzahl dieser Studien wurde nicht beendet und schloss nur wenige Personen ein (Median N = 15, d. h. ca. 13 % des angestrebten Rekrutierungsausmaßes). Keine Studie untersuchte nicht medikamentöse Interventionen, wie Verbreitungswege, Informations- und Aufklärungsprogramme, Teststrategien, Hygienekonzepte oder Effekte von Ausgangsbeschränkungen. Bis auf die regionale Case-Cluster-Studie „Heinsberg-Studie“ wurden keine weiteren Cluster-Studien z. B. in Schulen, Kindergärten oder Pflegeheimen in Deutschland durchgeführt. Um die Ergebnisse dieser Preprint-Studie kritisch einzuordnen, befragte das Science Media Center Germany (SMC) Expert*innen, wie die Studie methodisch und inhaltlich zu bewerten ist, und bat um Statements zu Verbesserungspotentialen klinischer Forschung. Die Forschungsgruppe um Lars Hemkens forderte für die Zukunft randomisiert kontrollierte Studien, die Interventionen auch auf Verhaltens-, Gesundheits- und Sozialsystem-Ebene untersuchen [1]. Damit rückte die Gruppe vom biomedizinischen (klinisch-naturwissenschaftlichen) Paradigma ab und nahm eine Public-Health- oder Versorgungsforschungs-Perspektive ein, die dem biopsychosozialen bzw. systemischen Verständnis von Gesundheit und Krankheit entspricht.



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Article published online:
25 January 2022

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