Diabetes aktuell 2021; 19(08): 360-365
DOI: 10.1055/a-1696-9234
Schwerpunkt

Was steuert unsere (verhängnisvolle) Essensfreude?

Diabetogene Zusammenhänge von Gehirnbelohnungssystem, Selbstkontrolle und Suchtpotenzial
Arno W. de Pay Verchen

ZUSAMMENFASSUNG

Die moderne Zivilisation und das überreichliche Nahrungs- und Lebensmittelangebot in unserer Zeit haben das ursprüngliche, auf das Überleben ausgerichtete Essverhalten stark verändert. Dem wird weder in der universitären ärztlichen Ausbildung noch bei politischen Entscheidungen zielführend und wirkungsvoll Rechnung getragen. Im komplexen Geschehen rund um das Essverhalten spielt das Gehirnbelohnungssystem die zentrale Rolle. Die Essensaufnahme wird von einem Glücksgefühl begleitet. Der Gewöhnungseffekt richtet sich allerdings nach „Immer Mehr“ aus und unterscheidet nicht mehr zwischen gesund und ungesund. Mit der Selbstkontrolle kann das Gehirnbelohnungssystem „aufgeschoben“ werden. Da die weit verbreiteten Genussmittel, Alkohol, Nikotin, Drogen, aber auch Medikamente, das „(Schein-)Glückhormon“ Dopamin im Darm und Gehirn exprimieren und kurzfristige Glückgefühle erzeugen, wird die Selbstkontrolle über eine verminderte Ansprechbarkeit des Gehirnbelohnungssystems gestört, mit der Folge eines Konsums kalorien- und fettreicher Nahrung. Die meist schwierige Auflösung des resultierenden Konflikts zwischen Begehrlichkeit und Gesundheit macht aber nachhaltig glücklicher. Eine kohlenhydratlastige und eiweißarme Nahrungszufuhr erzeugt über den Mangel an essenziellen Aminosäuren – wichtige Elemente der Serotonin- und Dopaminproduktion – ein wiederholt gesteigertes Hungergefühl, das besser über eiweißreiche, fett- und kohlenhydratarme vegetabile Nahrungsmittel (Gemüsesorten, Hülsenfrüchte) gestillt werden sollte. Um die Stressresilienz zu verbessern, aktiviert unter Belastungsbedingungen Zucker das Gehirnbelohnungssystem sehr rasch und erzeugt ein Glückgefühl mit Gewöhnungseffekt. Die komplexen Zusammenhänge werden ausgewählt dargestellt, aus denen sich die „Sucht“ nach Zucker, Hyperalimentation und Verknüpfungen mit der Entwicklung depressiver Zustände ergeben. Als Fazit wird, auch bei noch vorhandenen Wissenslücken, die Überzeugung vertreten, dass nur unter der synoptischen Berücksichtigung der systemischen Faktoren auf das Esshalten eine Primär- und Sekundärprävention, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, erfolgreich sein kann.



Publication History

Article published online:
21 December 2021

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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