Psychother Psychosom Med Psychol 2022; 72(12): 558-563
DOI: 10.1055/a-1704-8565
Originalarbeit

Vom „wesensfremden Konsum“ – Zum Umgang mit der Alkoholproblematik in einem DDR-Großbetrieb

On “Alienated Consumption” – How a Large Company in the GDR Dealt With Alcohol Abuse
Kathleen Haack
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Greifswald, Deutschland
2   Arbeitsbereich Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Rostock, Deutschland
,
Anton Schrödter
2   Arbeitsbereich Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Rostock, Deutschland
,
Hans Jörgen Grabe
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Greifswald, Deutschland
,
Ekkehardt Kumbier
2   Arbeitsbereich Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Rostock, Deutschland
› Author Affiliations
Förderung Die Studie entstand im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekts „Seelenarbeit im Sozialismus“ in dem zugehörigen Teilprojekt „Psychiatrie in der DDR zwischen Hilfe, Verwahrung und Missbrauch?“ (Förderkennzeichen 01UJ1908CY).

Zusammenfassung

Der Beitrag widmet sich dem Umgang mit der Alkoholproblematik in der DDR und spezifisch in Rostock anhand des 1983 entstandenen Dokumentarfilms „Abhängig“. Dabei geht es nicht um eine dezidierte Filmanalyse. Vielmehr fungiert er als Anlass, sich aus mikrohistorischer Perspektive mit den verschiedenen Dimensionen des Umgangs mit Alkoholkranken in einem DDR-Großbetrieb auseinanderzusetzen. Aus historischer Sicht ist der Dokumentarfilm gleich in mehrfacher Hinsicht interessant und eignet sich hervorragend als Quelle und Analyseinstrument der DDR-Psychiatriegeschichte. Es ist das Ineinandergreifen ideen- und sozialgeschichtlicher Perspektiven, die die Spannung zwischen gesellschaftlicher Ächtung einerseits und Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit andererseits über das Medium Film erfahrbar macht, zudem Versuche der Etablierung von Therapien in multiprofessionellen Teams und damit Wege aus der Sucht aufzeigt. Ergänzend wird auf erstmals eingesehenes umfangreiches Archivmaterial sowie Zeitzeugeninterviews zurückgegriffen. Nicht zuletzt ermöglicht der Einblick in den Sozialraum „volkseigener“ Großbetrieb (Neptunwerft mit Betriebspoliklinik) einen differenzierten Zugang in die realsozialistische Gesellschaft und deren spezifischen Umgang mit – im weitesten Sinn – abweichenden und in der jeweiligen Interpretation randständig-asozialem oder krankhaftem übermäßigen Alkoholkonsum. Neben dem Aufzeigen verschiedener Sichtweisen auf die Alkoholproblematik in der DDR, in deren Verlauf eine Ausweitung des medizinischen Definitionsbereichs erfolgte, zielt der Beitrag darauf, Anstöße für vergleichende Forschungen zu geben, notwendige Perspektivwechsel aufzuzeigen und langfristig allgemeingültige Aussagen über die Rolle der Psychiatrie im Kontext des Gesundheitswesens der DDR zu treffen.

Abstract

The paper investigates the treatment of alcohol abuse in the GDR, and specifically in Rostock, and was written using insights from the documentary film Abhängig [Addicted], which was filmed in 1983. This is not a film analysis. Rather, the paper functions as an impetus to examine from a micro-historical perspective the various dimensions of the way in which alcoholism was dealt with in a large GDR enterprise. From a historical perspective, the documentary is interesting in several respects and is ideally suited as both a source and an analytical tool for the study of the history of psychiatry in former East Germany. By intertwining perspectives from the history of ideas and social history, the film makes it possible to experience the tension between social ostracism, on the one hand, and acceptance of alcoholism as a disease, on the other. Moreover, it also shows attempts to establish therapies in multiprofessional teams and thus, ways out of addiction. Extensive archival material, viewed here for the first time, as well as interviews with contemporary witnesses are used as sources to supplement the film. The insight which the combined sources provide into the social space of a large, “volkseigener” [nationally owned] enterprise (the Neptune shipyard with polyclinic) permits a more nuanced insight into real socialist society and – in the broadest sense – into its specific approach towards deviant and depending on interpretation, marginal-asocial or pathological excessive alcohol consumption. In addition to highlighting different perspectives on alcoholism in the GDR, in the course of whose existence/history an expansion of the scope of medical definitions took place, the paper aims to provide impetus for comparative research and to point out where shifts in perspective may be necessary. In the long-term, the goal of such research would be to make generally valid statements about the role of psychiatry in the context of the healthcare system of the GDR.



Publication History

Received: 04 October 2021

Accepted: 19 November 2021

Article published online:
22 December 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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