Zeitschrift für Palliativmedizin 2022; 23(02): 80-83
DOI: 10.1055/a-1749-4077
Forum

Doppelkopf: Christoph Gerhard und Paul Hüster

Christoph Gerhard

Zoom Image

Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

Es waren Erfahrungen in meiner neurologischen Facharztausbildung. Ich begegnete Menschen z. B. mit ALS, sah deren schweres Leid und spürte, dass die Neurologie diesem existenziellen Leid hilflos gegenüberstand. Ich bildete mich zunächst ethisch weiter, studierte Medizinische Ethik an der Fernuniversität Hagen bei Professor Beckmann, machte später eine Ausbildung zum Schmerztherapeuten in Köln, um dann am Zentrum für Palliativmedizin in Bonn in den damals noch recht neuen Palliativkursen bei Friedemann Nauck, Monika Müller und Martina Kern das zu finden, was ich immer gesucht hatte, eine andere Haltung, dem schwer kranken, existenziell leidenden Menschen zu begegnen. Ich schloss gleich eine Ausbildung zum Master und Trainer in Palliativmedizin in Bonn und Frauenchiemsee an, da ich so sehr merkte, genau das gefunden zu haben, was ich immer suchte. Parallel baute ich an meinem Krankenhaus ein Forum für ethische Fragen, einen Palliativdienst und ein krankenhausweites Schmerzmanagement auf, aus denen dann letztlich die Fachabteilung für Palliativmedizin entstand, die ich später leiten durfte.

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

Vielleicht als Psychotherapeut ausgerichtet auf existenzielle Fragen? So ganz nach dem Vorbild von Irvin D. Yalom? Auf jeden Fall würde ich den betroffenen Menschen genauso intensiv im Gespräch begegnen wollen, wie ich es in der Palliativmedizin tun kann.

Wie beginnen Sie Ihren Tag?

Mit einem Kaffee im Bett, dazu ein gutes Buch.

Leben bedeutet für mich …

… jeden Tag dazulernen zu dürfen. Ich liebe es, die unendliche Vielfalt menschlicher Lebens- und Daseinsformen, die Kunst, die Natur … einatmen zu dürfen und dabei zu erfahren, was es bedeutet, nur vorübergehend auf dieser Erde zu sein.

Sterben bedeutet für mich …

… das Leben zu Ende zu gestalten. Wenn ich meinen Patienten neugierig zuhöre, wie sie ihr Leben zu Ende führen, und sie dabei begleiten darf, hoffe ich, immer besser zu verstehen, was es bedeutet zu sterben, ja sterblich zu sein. Es braucht schon eine Haltung der Demut, denn Sterbende erfahren gerade existenziell das Sterben in allen Facetten und können uns viel darüber lehren.

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Ich durfte schon so vieles erreichen, von dem ich nie glaubte, dass es eintritt. Ich bin daher vom Leben schon so reich beschenkt worden, dass ich mich über jeden neuen Tag freue, an jeder neuen Erfahrung labe.

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

Ich durfte schon so viel Unterschiedliches lernen, von der Zellbiologie, in der ich meine Doktorarbeit machte, über Medizin, die Neurogebiete, bis hin zu geisteswissenschaftlichen, philosophisch-ethischen Themen, dazu zwei Musikinstrumente (Geige und Klavier), dass ich gar nicht genau sagen kann, was davon die wichtigste Lernerfahrung ist. Ich würde sagen: alles zusammen! Und das bedeutet, dass ich so viele Aspekte des Lebens in diesen verschiedenen, mal eher natur- oder geisteswissenschaftlich begründeten, mal mehr kreativ-künstlerischen Facetten kennenlernen durfte, wofür ich sehr dankbar bin. Wichtig sind alle meine Lehrer, unabhängig davon ob es z. B. professionelle Lehrer oder meine Patienten waren.

Was würden Sie gern noch lernen?

Oh da gibt es noch vieles! Zum Beispiel Sprachen … Fließend Spanisch sprechen, was in meinem Alter vielleicht nicht mehr so leicht geht. Vor allem möchte ich aber immer besser, immer tiefer lernen, mein Leben bewusst zu Ende zu gestalten, ohne das Gefühl zu haben, vor irgendetwas weglaufen zu müssen.

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

Aus den Begegnungen mit den besonderen Menschen, mit denen ich zusammenleben, zusammenarbeiten oder befreundet sein darf. Eine große Rolle spielen Erfahrungen in der Natur beim Fahrradfahren, Spazierengehen oder Wandern, das Reisen, das Erleben von Kunst und Musik. Ja, ich gehe gerne in Konzerte und ich musiziere gerne mit anderen, was mir viel Kraft gibt.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gern einmal einen Abend verbringen?

Mit Erich Loewy. Ich bin fasziniert von seinen Metaphern, z. B. von der Orchestrierung des Lebensendes, von der Ethikberatung als Reiseplanung. Ich würde gerne von seinen kreativen Ideen profitieren und mich mit ihm darüber austauschen. Ich glaube, er hat das Prozesshafte palliativer Begleitung, die kreative Gestaltung des eigenen Lebens besonders intensiv ausgeführt und darüber möchte ich mit ihm reden.

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich …

… mich gerne ins Jahr 2100 beamen lassen und unsichtbar dabei sein. Ich bin wahnsinnig neugierig, wie sich dann die Dinge entwickelt haben werden. Zum Beispiel ob die medizinische Entwicklung soweit ist, dass fast alles heilbar geworden ist und damit palliative Versorgung immer weniger notwendig. Oder ob die Fortschritte der Medizin immer mehr dazu geführt haben, dass Menschen unerfreuliche Situationen länger erleben müssen und damit palliative Wege noch wichtiger geworden sind.

Wie können Sie Paul Hüster beschreiben?

Paul ist ein Mensch mit einer wunderbaren Kreativität und einem besonderen Gestaltungsinteresse, der Dinge bewegt und dabei flexibel geblieben ist. Ich finde es faszinierend, wie er sich immer wieder neue Welten erschloss: erst die Theologie, dann die Öffentlichkeitsarbeit und dann recht spät im Leben, aber dafür umso intensiver, die Hospizarbeit. Ich bewundere, wie er es schafft, immer wieder neu zu starten und wie er Dinge auf den Weg gebracht hat: die christlichen Hospize Oberhausen mit eigener Akademie, die Vernetzung palliativer und hospizlicher Akteure und besonders den Blick auf den ganzen Menschen im Sinne von Cicely Saunders und ihrem Total-Pain-Konzept.

Wie beenden Sie Ihren Tag?

Unterschiedlich: mal mit einem Glas Wein und einem Buch, mal mit Freunden, mal viel zu lange an einem Buch schreibend, mal einfach nur zu Hause mit meiner wunderbaren Frau.

Gibt es etwas, das Sie gern gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

Warum ich finde, dass Autonomie in die WHO-Definition gehört? Und warum Autonomie in der Palliativversorgung einen so ganz besonderen und überragenden Stellenwert für mich hat? In der WHO-Definition wird das Ziel der Palliativversorgung mit der Verbesserung der Lebensqualität angegeben und dies wurde von den europäischen und nationalen Definitionen weitgehend übernommen. Autonomie kommt als Begriff nicht vor und fehlt dort meines Erachtens. Ich glaube, das hat auch etwas damit zu tun, dass die historisch vorrangigen Zielgruppen der Palliativversorgung, nämlich Tumorpatienten, oft nicht ganz so extrem in ihrer Autonomie bedroht sind. Bei den sogenannten Nichttumorpatienten ist das häufig anders. Sie leiden an kognitiven, sprachlichen oder sogar emotionalen Veränderungen und sind in ihrer körperlichen Autonomie oft eingeschränkt. Palliativversorgung scheitert manchmal daran, dass sie z. B. das Wort Schmerz vergessen haben und ihr Leiden dadurch schwerer ausdrücken können, dass sie still leiden, da sie es auch körpersprachlich durch ihre Beeinträchtigungen schwerer vermitteln können. Es ist so wichtig, sich in sie hineinzudenken, ihnen eine Stimme zu verleihen, auch zuzuhören, wenn fast nicht gesprochen wird und ihren Willen zu rekonstruieren aus schwer interpretierbaren aktuellen Äußerungen, Mutmaßungen und Vorausverfügtem. Ich glaube, dass palliative Fachleute in solchen Situationen ganz oft eine Hauptrolle als Autonomie-Ermöglicher haben können und einnehmen sollten. Und das geht vom Aufspüren des Patientenwillens bis zur einfühlsamen Begleitung einer Vorausplanung.

Zur Person

Geboren 1961 in Bad Mergentheim, aufgewachsen in Mannheim, Zivildienst in der Krankenpflege in Düsseldorf, Medizinstudium in Heidelberg, Göttingen, Bonn, Chicago.

Ausbildung zum Neurologen am Klinikum Wuppertal und Duisburg. Von 1996–2020 am Katholischen Klinikum Oberhausen tätig, zunächst als Oberarzt der Neurologie, dann als Chefarzt der Palliativmedizin, dort seit 2005 auch Leiter des multiprofessionellen Palliativdienstes, seit 2001 Vorsitzender des Ethikkomitees. Von 2011–2021 Aufbau und Leitung des Lehrbereichs QB 13 Palliativmedizin an der Universität Essen (2017 mit dem Lehrpreis ausgezeichnet). Aktuell Wissenschaftlicher Leiter der Niederrheinischen Akademie/SAPV Niederrhein, Dozent an mehreren Hochschulen und Akademien.

Kontakt: gerhard-palliativ@gmx.de



Publication History

Article published online:
25 February 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany