Balint Journal 2022; 23(01): 26-27
DOI: 10.1055/a-1759-0735
Tagungsbericht

Die Brandenburger Tagung „Balint und Wandern“

Heide Otten

Impressionen

Ein strahlend schöner goldener Oktobertag. Meine Reise geht von Berlin in das kleine Dorf Herzberg zum Landgasthof-Pension Simke. Ich bin gespannt. Nach 60 km Autobahn komme ich auf eine schmale gewundene Landstraße, gesäumt von Straßenbäumen mit buntem Laub. Das Auto rattert über Kopfsteinpflaster. Am Dorfeingang –nicht zu übersehen – Schilder, die die Beschwerden der Bürger über den Straßenzustand mitteilen. Im Gasthof begrüßt mich eine freundliche Wirtin, die sich sehr bemüht, mir noch ein Zimmer zuzuweisen – ich hatte vergessen zu reservieren.

Ich habe das große Vergnügen, als Beobachterin an diesem Leiterseminar teilzunehmen. 12 Teilnehmer*innen sind angereist. Herr Zimmermann und Frau Dietrich werden das Leiterseminar moderieren, so wie sie es hier seit vielen Jahren erfolgreich tun.

Die Gruppe besteht aus 9 weiblichen und 3 männlichen Kollegen, 4 davon sind bereits fertig ausgebildete Leiter, 6 streben eine Leiterausbildung an, 2 nehmen teil als Balintgruppenmitglieder mit längerer Balintgruppenerfahrung. 5 Teilnehmer sind als Hausärzte in der Region niedergelassen, eine Teilnehmerin ist aus Bayern angereist und arbeitet dort als Psychotherapeutin in eigener Niederlassung. Ein Teilnehmer kommt aus Niedersachsen und arbeitet in eigener Praxis als Facharzt für Psychosomatische Medizin.

Diese Zusammensetzung hat den unschätzbaren Vorteil, dass Arzt-Patient-Beziehungen aus der hausärztlichen Versorgung vorgestellt werden. Für die zukünftigen Leiter eine fantastische Möglichkeit, sich mit den Problemen der Basisversorgung zu beschäftigen – so wie es von Balint ursprünglich einmal praktiziert wurde. Mir kommt eine Klage einer Kollegin in den Sinn, die nach abgeschlossener Leiterausbildung eben mit solchen Problemen vorwiegend konfrontiert wurde und sich sinngemäß so äußerte: „Sie haben uns in der Leiterausbildung viel vermittelt, aber nicht auf diese Art der Gruppenleitung vorbereitet. Wir haben in den Leitergruppen überwiegend mit psychotherapeutisch tätigen Kollegen zu tun gehabt, die ihre Patienten vorgestellt haben. Nun fühle ich mich ins kalte Wasser geworfen, hätte für die praktische Tätigkeit als Balintgruppenleiterin noch anderes Rüstzeug gebraucht“

Die Gruppe sitzt in einem großen, hellen, ruhigen Raum. Der Corona-Abstand kann gewahrt werden. Die Verständigung ist trotzdem gut. Von außen gibt es keine Störungen.

Nach einer kurzen klaren Einführung durch den Moderator werden 9 Teilnehmer in den Innenkreis gebeten, 3 bleiben als Supervisoren außerhalb der Gruppe. Die Gruppe ist angehalten, Leiter, Coleiter und Referenten zu generieren. Interessanterweise findet sich sofort eine Referentin, die offensichtlich schon darauf gewartet hat, ihre Geschichte in der Balintgruppe anzubieten, um Entlastung zu erfahren. Auch bei den weiteren 4 Gruppen wird dies der Fall sein. Es werden jeweils mehrere Fälle pro Sitzung angeboten. Und tatsächlich bekommt nicht jeder die gewünschte Gelegenheit, die 5 Sitzungen reichen für den Bedarf nicht aus. Ein bemerkenswertes Phänomen, erleben wir es in anderen Leiterseminaren doch eher so, dass oft lange auf eine Fallvorstellung gewartet werden muß.

Hier wird einmal mehr sehr deutlich, welch große Rolle der Aspekt der Psychohygiene in der Balintarbeit spielen kann. Die Kollegen die hier in Brandenburg allein in einer Hausarztpraxis tätig sind, suchen die Entlastung und die Unterstützung in der Balintgruppe. Ein Indiz dafür ist, dass der Tagungsleiter eine langjährige Balintgruppe in der Region anbietet, an der einige Mitglieder auch schon über viele Jahre teilnehmen.

Ein weiterer Vorteil dieser gemischten Gruppe aus erfahrenen Kollegen, die selbst schon Gruppen leiten, und noch unerfahrenen ist der, dass durch Vorbild lernen möglich wird. Die erfahrenen Leiter leiten mit großer Ruhe, geben der Gruppe Sicherheit, demonstrieren auf diese Weise, welch wichtige Funktion der Leiter hat für den Schutz des Referenten und der Gruppenmitglieder. In der Nachbesprechung kann auf dieses Phänomen hingewiesen werden. Die Gruppenmitglieder spüren den Unterschied zwischen einer sicheren Leitung und einem Leiter, der „es gut machen will“, „sich anstrengt“ und dem Leiter, der die Voten der Gruppe aufnehmen und diese nutzbar machen kann, den Prozess strukturiert und gleichzeitig Raum lässt für alle Emotionen, Phantasien, Gedanken. Das Fazit: Sicherheit wächst mit der Übung, auch und gerade unter Supervision.

Zwei Phänomene fielen auf, die unterschiedlich gehandhabt und kritisch diskutiert wurden: 1. Die „Frage des Referenten“ an die Gruppe und 2. Das „pushback“, also das Herausnehmen des Referenten aus der Gruppendiskussion.

Die Teilnehmer, die schon mehrere Leiterseminare besucht hatten, bestanden auf der Frage an den Referenten. Wir haben uns in der Auswertung des Prozesses angeschaut, was diese Frage und ihre Antwort bewirkten. Teilweise war es schwierig für den Referenten, eine Frage zu formulieren. Die schnelle Lösung: „Was soll ich machen?“ Dies führte deutlich zu einer Einengung des Gruppenprozesses. Es wurden Ratschläge gegeben. Die Gruppe war bemüht, diese Frage nach dem „Machen“ zu beantworten. Emotionen wurden nicht benannt, Phantasien kamen nicht auf. Es zeigte sich, dass diese Frage kontraproduktiv sein kann. Vielleicht bringt sie den Referenten in gewissen Situationen zu einer Konzentration auf sein Problem. Für die Gruppenarbeit aber bleibt der Fokus auf der Beziehung und den diese bestimmenden Emotionen. Hierbei hilft es, Raum zu geben für Phantasien und Empfindungen.

Das Herausnehmen des Referenten ist in Deutschland inzwischen durchweg üblich. Diskutiert wird über die Möglichkeit, den Referenten zwischendurch wieder in die Gruppenarbeit hineinzunehmen, wenn die Leitung – Leiter oder Coleiter - den Eindruck haben, dass dies für den Referenten selbst oder für den Fortgang der Gruppenarbeit sinnvoll und hilfreich ist. Hier war bei einigen in der Leiterausbildung der Eindruck entstanden, man dürfe den Referenten nur zum Schluß der Sitzung noch einmal hören. Es konnte sehr schön gezeigt werden, welche Folgen das eine oder das andere Verfahren hatte. Es konnten Impulse durch den Referenten und seine Bemerkungen zwischendurch erlebt werden. Ein zu frühes Hereinnehmen kann den Gruppenprozess aber auch unterbrechen und die Entwicklung von Phantasien behindern. Hier ist es wichtig, ein feines Gespür dafür zu entwickeln, wann der Referent zu Wort kommen sollte. Sehr hilfreich erwies sich hier der Coleiter. Seine Aufgabe war vom Moderator sehr klar definiert worden, nämlich auf die aufkommenden Emotionen in der Gruppe und beim Referenten zu achten, während der Leiter für die Strukturierung des Gruppenprozesses verantwortlich ist. Diese klare Ansage hat sich im Laufe der Gruppenarbeit sehr bewährt.

In allen 5 Gruppen konnten die Referenten etwas aus der Arbeit der Gruppe mitnehmen und neue Perspektiven gewinnen. Natürlich bringt auch die Diskussion über den Gruppenprozess einen zusätzlichen Gewinn für den Referenten. Auch das könnte ein Argument dafür sein, im Leiterseminar gern auch Kollegen teilnehmen zu lassen, die nicht unbedingt die Leiterausbildung anstreben. Die Rückmeldungen nach der Gruppenarbeit sind frisch, unmittelbar vom Erleben als Gruppenmitglied oder Referent geprägt. Ein zusätzlicher Gewinn für den Leiter.

In der Auswertung lag das Augenmerk auch auf der Gruppendynamik und den Spiegelphänomenen. Dies konnte in der Diskussion sehr schön herausgearbeitet werden. Für die Leiter wurde deutlich, welche Bedeutung es hat, die Metaebene auch während des Gruppenprozesses im Auge zu behalten.

In dieser offenen Atmosphäre bei klarer Struktur, sehr gut gehalten von den beiden Moderatoren in sensiblem Umgang damit, hatten alle Emotionen ihren Platz und konnten adäquat geäußert und integriert werden. Auch Humor als reifste Form der Abwehr hatte seinen Platz.

Zum vertrauten Miteinander hat die gemeinsame Wanderung am Samstag durch Feld und Wald in der näheren Umgebung zusätzlich beigetragen, wie in den Rückmeldungen betont wurde. Diese brachte Gelegenheit zum kollegialen Austausch, zu Gesprächen, auch zum Plaudern in kleiner Runde während des Gehens.

Insgesamt eine sehr gelungene Veranstaltung, die im kommenden Jahr zum 30. Mal stattfinden wird. Dank und Anerkennung an den Initiator und Organisator Wolfram Zimmermann, wie auch Carmen Dietrich als sensible Co-Moderatorin.

Berlin, den 4.11.2021 Heide Otten



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Article published online:
21 March 2022

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