physiopraxis 2022; 20(06): 1
DOI: 10.1055/a-1819-3042
Editorial

Alle in einem Boot?

Claudia Kemper

In den sozialen Netzwerken machen sie die Runde: die Initiativen zur Akademisierung. Unter „#zusammenTun“ (S. 14) und „Wir stärken euch den Rücken. Und ihr?“ wird um Unterstützung geworben. Die einen sehen die Notwendigkeit einer grundständigen hochschulischen Ausbildung, die anderen wünschen sich eine Reform der Therapieausbildung an Berufsfachschulen mit Ausbau der Teilakademisierung. Und so scheiden sich die Geister, obwohl doch alle dasselbe wollen: mehr Qualität und Evidenzbasierung.

„Alle wollen mehr Qualität und Evidenzbasierung.“

Bei allen Forderungen nach Qualität durch Evidenzbasierung hinterfragt man jedoch nie die Qualität der Evidenz. Aktuelle Erkenntnisse dazu sind erschreckend: Eine in der Zeitschrift Emergency Medicine Australasia (EMA) veröffentlichte Analyse von 228 Studien kam zu dem Ergebnis, dass bei 11 Prozent der Manuskripte der zentrale statistische p-Wert nicht korrekt interpretiert und damit die Signifikanz falsch angegeben wurde [1]. Fehlentwicklungen und Fehlinterpretationen im Rahmen der Wissenschaft bemängelt auf ganz andere Weise der im März 2022 veröffentlichte Innovationsreport 2021 der Techniker Krankenkasse: Offenbar verschwinden nicht wenige unwillkommene Forschungserkenntnisse in den Schubladen [2]. Solche Mängel im Rahmen der Forschung führen zu Fehlentscheidungen, die auch unsere Physiotherapie, zum Beispiel im Rahmen der Gestaltung des Heilmittelkatalogs, betreffen.

Wenn also mehr Qualität von allen gefordert wird und der Weg dahin über Evidenzbasierung führt, sollten wir dann nicht alle in der Lage sein, wissenschaftliche Ergebnisse kritisch zu hinterfragen? Nur dann können wir uns aktiv einmischen in die Gestaltung unseres Berufs. Wenn Qualität durch Evidenzbasierung im Mittelpunkt steht, dann sollten nicht institutionelle Interessen maßgeblich sein, sondern das Interesse am bestmöglichen Weg zum Kompetenzerwerb jedes Einzelnen.

Viel Freude beim Lesen!

Claudia Kemper



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Article published online:
10 June 2022

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