JuKiP - Ihr Fachmagazin für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege 2022; 11(05): 182-183
DOI: 10.1055/a-1906-7366
Kolumne

… und wieder ein neuer Anfang

Heidi Günther
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Quelle: Friedrich Günther

In Deutschland leben knapp 800 000 Menschen in den 11 000 Altenheimen des Landes. Und nun auch unsere Mutter. Am vergangenen Wochenende ist sie mit Sack und Pack umgezogen. Vor 32 Jahren zog sie gemeinsam mit meinem Vater von Berlin nach München. Damals waren die Mieten noch erschwinglich, sodass sie sich eine 110 Quadratmeter große, sehr schön im Grünen am Rand der Stadt gelegene Wohnung leisten konnten. Solange sie fit und gesund waren, waren auch die steile Treppe im Haus oder die schlechte infrastrukturelle Anbindung kein Problem. Sie wohnten idyllisch, großzügig, ruhig. Sie hatten ein Auto und Fahrräder. Und die Treppe hielt bestenfalls noch sportlich fit.

Eine erste Zäsur kam dann, als mein Vater sehr krank wurde, noch nicht einmal ein Krankentransport über diese leidige Treppe möglich war und er sich den Rest seines kranken Lebens mit viel Kraft, Tricks und Überredung so selten wie nur möglich diese Stufen hoch oder runter gequält hat. War er dann irgendwann in der Wohnung angekommen, war die Welt wieder in Ordnung, weil Raum und Platz mehr als genug da waren. Dann ist mein Vater gestorben, und wir Kinder waren der Meinung, dass es nun für meine Mutter an der Zeit wäre, in eine kleinere, zentral gelegene und vielleicht schon ein bisschen altersgerechte Wohnung zu ziehen. Aber nicht mit meiner Mutter. Sie war damals 77 Jahre alt. Fühlte sich fit. Fuhr noch Auto und hatte ihr gesamtes soziales Netz im Umfeld ihrer Wohnung verortet. Sie wollte nicht weg von ihren Nachbarn, dem Bäcker, dem Metzger, dem Hausarzt. Wir Kinder hatten keine Chance, und alle Angebote, die mein Bruder für sie gesucht hatte, schlug sie aus. Sie blieb, wo sie war, und irgendwie hatten wir auch Verständnis. Das ging vier Jahre gut und kam dann allerdings, wer hätte es gedacht, ganz dicke. Sowohl für sie als auch für uns. Es ging Schlag auf Schlag. Sie wurde krank und kränker. Ihre Mobilität schwand zusehends. Autofahren war schnell kein Thema mehr, Arztbesuche, Einkäufe, zu mir kommen – alles war nur noch mit Hilfe und organisatorischem Aufwand möglich. Eine kleinere, altersgerechte Wohnung war kaum noch Thema in der Familie: Eine versorgungstechnische Lösung musste her. Eine schwierige Entscheidung für meine Mutter. Ich denke, keine oder nur wenige ältere Menschen gestehen sich mal eben schnell ein, dass ein selbstständiges Leben nun nicht mehr möglich ist. Ein Pflegeheimplatz kam für sie gar nicht infrage. Betreutes Wohnen war dann der Kompromiss. Nun ist es ja nicht so, dass die freien Kapazitäten für solche Wohnungen auf der Straße liegen. Schon gar nicht in München. Und tat sich eine Möglichkeit auf, war diese, auch mit Unterstützung von uns Kindern, kaum zu bezahlen. Ein Albtraum! Im Lauf der Zeit war es dann so, dass ein ambulanter Pflegedienst meine Mutter versorgte, eine Haushaltshilfe in der Wohnung unterstützte und wir Kinder in Absprache mit ihr alle Wege abfuhren. Wenn das alles nicht ausreichte, halfen die Nachbarn aus.

Vor drei Monaten dann endlich ein Lichtblick! In einer Gemeinde am Bodensee, wo auch mein Bruder lebt, wurde eine betreute Wohnung in einer Einrichtung frei. Eine schnelle Entscheidung war nötig. Und zwar von jetzt auf gleich. Wenn sie diese Wohnung nicht genommen hätte, dann hätte es am nächsten Tag jemand anderes getan. Sie hat sie genommen und wir haben aufgeatmet. Fehlte nur die „Kleinigkeit“, den Hausstand von 63 gemeinsamen Jahren und von 32 Jahren in der alten Wohnung auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Möbel aus vier Zimmern, zwei Bädern und einer Riesenküche. Hunderte Bücher, Schallplatten, CDs, Bilder, Geschirr ohne Ende (meine Mutter hätte, glaube ich, 30 Leute bewirten können, ohne einen Teller zweimal zu benutzen), Nippes, Kleinkram, Deko – unglaublich. Dazu kam die trügerische Vorstellung meiner Mutter, was der monetäre Wert ihrer Dinge sei und wie gut sie diese verkaufen könnte, und dann die Riesenenttäuschung, dass sie froh sein konnte, wenn sich jemand findet, der diese Dinge einfach nur abholt, ohne dafür Geld zu nehmen. Meine Mutter ist Teil einer Generation, die um eine Küche weint, weil sie vor 15 Jahren 20 000 Euro gekostet hat und heute nichts mehr wert ist. Und nicht nur das, es wollte sie zuerst auch niemand geschenkt haben. Für sie unverständlich. Tränen flossen, als ihre geliebte, in unseren Augen völlig unmoderne, verschlissene Couchgarnitur von den Arbeitern aus dem Fenster geworfen und zum Sperrmüll gebracht wurde. Die Achterbahn der Gefühle meiner Mutter war so groß, dass wir Kinder uns um ihre verbliebene Gesundheit große Sorgen gemacht haben. In ihren Augen – und wenn man ehrlich ist, stimmt es ja auch ein bisschen – flog ihr Leben aus dem Fenster. Am Ende des Tages stand in einem der Zimmer ihrer nun ehemaligen Wohnung der Rest ihrer Habseligkeiten in Kartons, zusammen mit sehr wenigen Möbeln. Damit muss man auch erst einmal fertig werden.

Jetzt ist der Umzug Geschichte, und mein Bruder hat die letzten Tage damit verbracht, ihr die neue, kleine Wohnung so gemütlich und schön zu machen, wie es nur geht. Wir alle hoffen sehr, dass sie gut ankommt, sich erholt und ein gesundes, sorgenfreies Leben führt. Auf jeden Fall sind uns Kindern mehrere Steine vom Herzen gefallen. Wir müssen uns jetzt nicht mehr sorgen, ob sie Hilfe benötigt, ob sie die Treppe runtergekommen ist, ob sie etwas zu essen hat. Das Haus steht in einer superschönen Anlage und hat von außen nicht die Anmutung eines Pflegeheims, was ja ihre größte Sorge war. Sie kann so frei und selbstbestimmt leben, wie sie nur möchte und letztendlich kann. Und das ist doch die Hauptsache!

Es müsste in Deutschland viel mehr von diesen Wohnmöglichkeiten für unsere älteren Menschen geben. Sie sollten bezahlbar, attraktiv, gefördert und in der Gesellschaft viel positiver bewertet werden. Das Image des Pflegeheims, wo bettlägerige, sabbernde alte Menschen von zu wenig unterbezahltem Personal schlecht betreut werden, ist der Problematik überhaupt nicht dienlich. Meine Mutter hatte Angst davor und sieht jetzt, dass es auch anders geht. Schade, dass man dafür viel Glück braucht.

Nebenbei gesagt freut sich wahrscheinlich bald eine junge Familie, weil sie eine große Vier-Zimmer-Wohnung im Grünen findet! Dieser Familie kann man nur gratulieren, und meiner Mutter wünschen wir einen guten Start in eine schöne neue Lebenszeit!

In diesem Sinne

Ihre

Heidi Günther

Guenther-Heidi@web.de



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Article published online:
05 October 2022

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