Z Sex Forsch 2022; 35(03): 182-184
DOI: 10.1055/a-1912-6693
Buchbesprechungen

anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte

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Benno Gammerl. anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte. München: Carl Hanser 2021. 416 Seiten, EUR 25,00

Die Geschichte der Homosexualitäten in der Bundesrepublik Deutschland wird gemeinhin als Erfolgsgeschichte erzählt. Liberalisierung und Entkriminalisierung, Emanzipation und Partizipation, Diversifizierung und Akzeptanz sind die Schlagworte eines Narrativs, das mit Blick auf die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte gerade in der LGBTQ + -Community das Selbstbewusstsein stärkt sowie identitäts- und gemeinschaftsstiftend wirkt. Eine allzu lineare und teleologisch geprägte Erzählung verfehlt laut Gammerl jedoch die Komplexität der Entwicklung schwul-lesbischen Lebens in Deutschland seit 1949: „Kein gleichmäßig ansteigender Pfad der ‚Fundamentalliberalisierung‘ führt von der Homo-Verfolgung der Adenauer-Ära zur Einführung der Homo-Ehe in den Merkel-Jahren. Die Idee eines natürlichen Fortschritts hin zur gesellschaftlichen Inklusion ist historisch unzutreffend und politisch irreführend. Deswegen muss die Geschichte der Bundesrepublik und die der Homosexualitäten anders geschrieben werden“ (S. 19 f.).

Das Postulat einer anderen Geschichtsschreibung bedeutet für Gammerl, zwischen den Polen universalistischer affekttheoretischer und relativistischer sozialkonstruktivistischer Ansätze der Emotionsforschung zu vermitteln, also sowohl der körperlichen Unmittelbarkeit von Gefühlen (Natur) als auch der historisch-sozialen Bedingtheit von Gefühlen (Kultur) Rechnung zu tragen: „Letztlich muss man beides zusammendenken, wenn man Gefühle wirklich begreifen will“ (S. 29 f.). Orientiert am Paradigma der „dichten Beschreibung“ (Clifford Geertz) wertet Gammerl akribisch narrativbiografische und leitfadengestützte Interviews aus, die er mit 32 Gesprächspartnerinnen und -partnern in den Jahren 2008 und 2009 geführt hat, und ergänzt seine Interpretationen durch die flankierende Analyse einschlägiger Zeitschriften wie u. a. „Der Kreis“ und „Du & Ich“, „Courage“ und „Lesbenstich“. Dabei ist er sich zweier methodischer Probleme bewusst: Zum einen handelt es sich bei den von ihm befragten 15 Frauen und 17 Männern der Geburtsjahrgänge zwischen 1935 und 1970 um eine Personengruppe, deren Aussagen statistisch nicht repräsentativ für seine zwei Generationen umfassende Darstellung sind. Zum anderen birgt die Auswertung der durch Oral History gewonnenen lebensgeschichtlichen Erzählungen Schwierigkeiten, die sich aus dem „kreative[n] Wechselspiel zwischen einstigem Erleben und aktuellem Selbstentwurf“ (S. 29) ergeben. Ungewiss bleibt, ob die Emotionserinnerung dem teilweise jahrzehntelang zurückliegenden Emotionserlebnis entspricht. Dennoch kann Gammerl „für bestimmte Zeiten und Gruppen typische emotionale Muster und Praktiken aufspüren“ und Veränderungen des „Gefühlsleben[s] gleichgeschlechtlich begehrender Menschen im Lauf der Zeit“ (S. 29) beschreiben. Die Ergebnisse nähren ihm zufolge „Zweifel an der Liberalisierung als dem zentralen Paradigma bundesrepublikanischer Geschichte“ (S. 25) und eröffnen alternative Perspektiven auf die Geschichte der BRD, weil statt struktureller Veränderungen im politischen oder juristischen Bereich „die Gefühle und der Alltag gleichgeschlechtlich liebender Menschen im Zentrum“ (S. 28) seiner Gesamtdarstellung der Geschichte weiblicher und männlicher Homosexualität stehen.

Die Chronologie des Buches folgt der rechtsgeschichtlichen Entwicklung des § 175 StGB von der Fortgeltung des durch die Nationalsozialisten 1935 verschärften Gesetzes in der jungen Bundesrepublik über die Reform des Sexualstrafrechts im Jahr 1969 bis zur Aufhebung des Paragrafen im Zuge der deutsch-deutschen Wiedervereinigung 1994. In drei Teilen beschreibt Gammerl auf der Grundlage seiner Quellen jeweils zuerst allgemein die westdeutsche Homosexualitätengeschichte im Spannungsfeld zwischen Repression, Aktivismus und gesellschaftlicher Behauptung, dann erkundet er die Funktion verschiedener Räume gleichgeschlechtlichen Lebens, ehe er schließlich analysiert, welchem Wandel Empfindungen wie Angst und Scham, Wut und Stolz, Freude, Trauer und Liebe unterliegen. Eingerahmt wird die Untersuchung durch die Lebenserzählungen von Frau Schmidt (*1943) und Herrn Meyer (*1944), die ausführlich wiedergegeben werden und stellvertretend für alle geführten Interviews auch jedem zeitlichen Abschnitt vorangestellt sind. In den fünf Originaltönen spiegelt sich ein halbes Jahrhundert lesbischen und schwulen Lebens, das als kontinuierlicher Prozess der Selbstfindung und -verwirklichung mit dem Wechsel zwischen Ausgrenzung und Zugehörigkeit sowie der Erfahrung von Enttäuschung und Zufriedenheit erscheint, retrospektiv aber beiderseits positiv als „Befreiung“ (S. 333) bzw. „Lebensglück“ (S. 337) bezeichnet wird. Die Einblendungen sind Teil des Quellenmaterials, aus dem Gammerl seine Erkenntnisse gewinnt, wie ein Leitfaden ziehen sie sich durch das Buch und setzen dessen thematische Schwerpunkte, sie vermitteln authentische Eindrücke von den Akteur*innen und erhöhen nicht zuletzt durch Identifikationsangebote die Lesbarkeit.

„Ausweichen.“ (S. 33 ff.) nennt Gammerl die Phase der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte, in denen das vollständige Verbot auch einvernehmlicher homosexueller Handlungen zur strafrechtlichen Verfolgung von mehr als 100 000 und zur Verurteilung von ungefähr 50 000 Männern führte. Mit dieser 1957 vom Bundesverfassungsgericht als grundrechtskonform bewerteten Praxis gingen Erfahrungen familiärer und gesellschaftlicher Diskriminierung einher, sodass schwul-lesbisches Begehren überwiegend unterdrückt wurde oder im Verborgenen stattfand, angstbestimmt und schambehaftet blieb und nicht selten von Depressionen mit Suizidabsichten begleitet wurde. Daneben kann der Verfasser jedoch nachweisen, dass es in Anknüpfung an die sexualwissenschaftliche Forschung Magnus Hirschfelds bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren erneute Bemühungen gab, Homosexualität als Veranlagung zu entpathologisieren, dass der Menschenrechtsdiskurs ihre Entkriminalisierung initiierte und dass sogar wieder ein politisches Engagement für die Gleichberechtigung Homosexueller entstand. Ferner zeigt er das Spektrum gleichgeschlechtlicher Begegnungsmöglichkeiten. Sie waren nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern konnten sich in Privatwohnungen ergeben, unterlagen dann allerdings der sozialen Kontrolle durch Angehörige, Vermieter*innen oder Nachbarn. In einigen Großstädten existierten Lokale, die als soziale Räume der Vergemeinschaftung dienten, durch Einlassbeschränkungen und subkulturelle Verhaltenscodes manche Besucher aber auch einschüchterten. Halböffentliche Cruising-Zonen blieben als Gewalträume wegen drohender Kriminalität und Polizeirazzien potenziell gefährlich. Schließlich erlaubt Gammerls Auseinandersetzung mit den Äußerungen seiner Interviewpartner*innen einen differenzierten Blick auf Emotionen wie z. B. Angst, die neben der passiven Angst vor Verfolgung auch ein Aktivierungspotential zu politischem Handeln einschließt. Die Eindimensionalität „des homosexualitätenhistorischen Erfolgs- und Befreiungsnarrativs“ wird auf diese Weise korrigiert: „Scham und Angst wurden im Zuge der Emanzipation nicht durch Stolz und Mut ersetzt, so als ob in den Nachkriegsdekaden nur selbstzweiflerische und ab den 1970er-Jahren nur selbstaffirmative Emotionen das Leben gleichgeschlechtlich begehrender Menschen bestimmt hätten. Diese unterschiedlichen Formen des Fühlens schließen einander nicht wechselseitig aus. Sie existierten vielmehr in widersprüchlicher Gleichzeitigkeit“ (S. 138).

„Aufbrechen!“ (S. 141 ff.), um für Toleranz zu werben, konnten Schwule und Lesben, nachdem 1969 einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern über 21 Jahren straffrei gestellt worden waren. Beeinflusst durch die Stonewall-Proteste in New York und aufgefordert durch den Slogan „Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!“ (S. 167) aus Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ (1971) bekannten sich Aktivisten nun beispielsweise auf Demonstrationen öffentlich zu ihrer Homosexualität. Als Teil heterogener Emanzipationsbewegungen, die durch mediale Aufmerksamkeit gestützt moderat oder provokativ für ihre Interessen eintraten, wurden in kurzer Zeit erstaunliche Fortschritte erreicht: Eine weitere Strafrechtsreform nahm der Homosexualität ihren Skandalcharakter, indem sie 1973 die moralischen Begriffe der „Sittlichkeit“ und „Unzucht“ ersetzte und das Schutzalter senkte. Nach der ersten Großdemonstration für die Rechte Homosexueller 1972 in Münster stieg deren Präsenz im öffentlichen Raum kontinuierlich bis zu den seit 1979 jährlich stattfindenden Christopher-Street-Day-Paraden, außerdem entstand eine ausdifferenzierte, meist städtische Infrastruktur aus politischen Zentren, Rückzugsräumen und Geschäften für schwul-lesbische Bedarfe. Einen emotionalen Aufbruch versprach die Möglichkeit einer Partnerschaft, durch die sich die Gefühlskälte der Elterngeneration überwinden ließ, signalisierten die Wut über bestehende Verhältnisse und der Mut zu politischem Gestaltungswillen, markierte die sukzessive Verschiebung von Angst zu neuem Selbstbewusstsein. Jenseits der „Heroisierung des Aufbruchs“ (S. 154) arbeitet Gammerl auch für diese Phase gegenläufige Tendenzen heraus: „Dank dieser Entwicklungen trauten sich mehr und mehr Menschen, ihr gleichgeschlechtliches Begehren auszuleben. Schwule und lesbische Identitäten wurden immer greifbarer, waren zugleich aber strittig und nicht klar umrissen. Das erleichterte und erschwerte die Selbstfindung“ (S. 187 f.).

Mit einem Fragezeichen versieht Gammerl die Überschrift des dritten Teils: In „Ankommen?“ (S. 247 ff.) zeichnet er das die 1980er-Jahre prägende „Neben- und Ineinander von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung“ (S. 281) nach. Obwohl homosexuelle Lebensentwürfe sichtbarer und Lebenswelten zwischen ruralen und urbanen Räumen internationaler und insgesamt vielfältiger wurden, erlahmte im Vergleich etwa zu den Niederlanden oder Dänemark die Dynamik rechtlicher und tatsächlicher Gleichstellung. Insbesondere die Aids-Krise förderte erneut Ausgrenzung und Diskriminierung, sodass der Konflikt zwischen selbstverständlich gelebter Offenheit und Strategien des Rückzugs wie der Re-Privatisierung neu auflebte. Emotionsgeschichtlich lassen sich für diese Phase sowohl eine vielfach therapeutisch gestützte Hinwendung zum Ich und das Bemühen um den Aufbau eines positiven Selbstgefühls jenseits der Pathologisierung als auch die Entstehung neuer Ängste feststellen: Gleichgeschlechtlich begehrende Menschen „fürchteten sich anders und vor anderen Dingen als früher, aber Ängste hatten sie nach wie vor. Die Normalisierung führte ihnen die Möglichkeit eines glücklichen schwulen oder lesbischen Lebens vor Augen und belastete sie zugleich mit der Aufgabe, dieses Ziel zu erreichen. Diesen Optimierungsdruck und die sich daraus ergebenden Ängste vor dem eigenen Scheitern mussten die Einzelnen erfolgreich meistern“ (S. 327 f.).

Durch den Fokus auf Emotionen erweitert Gammerl die Homosexualitätengeschichte der BRD um eine wichtige Perspektive. Auch wenn dabei der Einbezug rechtsgeschichtlicher Quellen (z. B. Akten aus den Strafverfahren gegen homosexuelle Männer) oder die Auswertung kulturgeschichtlicher Quellen in ihrer Wechselwirkung mit den Gefühlen der Interviewpartner*innen aufschlussreich gewesen wären, sind die Verdienste der Darstellung unbestreitbar. Einmal mehr zeigt sich, dass Gefühle eine Geschichte haben: So ist etwa die konkrete Angst Homosexueller vor staatlicher Verfolgung in der Nachkriegszeit etwas anderes als die für die Gegenwartsgesellschaft charakteristischen tendenziell diffusen Ängste. Gefühle machen aber auch Geschichte, wenn sie wie in der Phase des Aufbruchs zu politischem Aktivismus mobilisierten und soziale Wandlungsprozesse in Gang setzten, die gemeinsam mit der legislativen und judikativen Entwicklung zu mehr Akzeptanz von Homosexualität in der Gesellschaft beitrugen. Die Ambivalenz von Emanzipation und Liberalisierung auf der einen, Stigmatisierung und Ausgrenzung auf der anderen Seite tritt genauso in den Aussagen der von Gammerl interviewten Personen zutage, die anders als in themenverwandten Dokumentarfilmen von Rob Epstein und Jeffrey Friedman, Jochen Hick oder Marco Giacopuzzi nicht nur als Quellenmaterial zitiert, sondern auch analysiert werden. Homosexuelle Gefühlswelten werden auf diese Weise in ihrer Fragmentierung, Variabilität und Komplexität veranschaulicht, queere Lebensentwürfe bleiben ungeachtet des Zugewinns an Freiheit auch in emotionaler Hinsicht weiter herausfordernd. In den Veränderungen der „Gefühls- und Lebenswelten frauenliebender Frauen und männerliebender Männer“ erkennt Gammerl die Möglichkeit, aus der Geschichte zu lernen: „Nur wer die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit dieses Wegs ernst nimmt, kann die gegenwärtigen Herausforderungen für queere Politik und queeres Leben wirklich begreifen, kann Gleichberechtigung fordern und Verschiedenheit leben“ (S. 32).

Marcus Schotte (Kassel/Berlin)



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Article published online:
06 September 2022

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