Dtsch Med Wochenschr 2023; 148(12): 720-721
DOI: 10.1055/a-1980-9211
Aktuell publiziert

Kommentar zu „Gabapentin: perioperative Gabe bei Älteren erhöht Delir-Risiko“

Contributor(s):
Daniel Kopf

Das postoperative Schmerzmanagement stellt eine große Herausforderung bei geriatrischen Patienten dar. Einerseits wird ein effektives Schmerzmanagement nicht nur gefordert, um die subjektive Belastung des Patienten unmittelbar postoperativ zu reduzieren, sondern auch um das Delir-Risiko sowie das Risiko für chronischen postoperativen Schmerz zu mindern. Andererseits birgt die Schmerztherapie sowohl mit Opioid- als auch mit Nicht-Opioid-Analgetika selbst wieder ein hohes Risiko unerwünschter Arzneimittelwirkungen. Um diese Medikamente einzusparen, werden Koanalgetika wie z.B. Antidepressiva, Gabapentin oder Pregabalin empfohlen.

Die aktuelle, große, retrospektive Studie an älteren Patienten scheint diesen Ansatz zu hinterfragen. Sie fand, dass das Risiko eines Delirs, der postoperative Antipsychotika-Gebrauch und das Risiko einer Pneumonie bei Patienten unter Gabapentin sogar erhöht waren, wenn man konfundierende Variablen detailliert berücksichtigt.

Bei genauerer Analyse der Studiendaten fällt auf, dass etwa zwei Drittel der mit Gabapentin behandelten Patienten sich orthopädischen Operationen unterzogen, weit überwiegend als elektive Operationen. Vor Bereinigung der Ergebnisse für konfundierende Variablen waren die Patienten, die Gabapentin erhielten, im Mittel sogar jünger, hatten weniger Begleiterkrankungen und erhielten mehr begleitende Opioide und sonstige Analgetika. Zwar wurden die Ergebnisse durch ein sehr differenziertes statistisches Verfahren für diese Unterschiede bei der Analyse der Risiken korrigiert. Es ist aber zu vermuten, dass ein beträchtlicher Teil der Patienten die postoperative Therapie mit Gabapentin nicht aufgrund von stärkeren Schmerzen, sondern als Teil eines standardisierten Schmerzschemas erhielt, das in Form von perioperativen Standards für elektive orthopädische Operationen in darauf spezialisierten Kliniken und Abteilungen Anwendung fand. Bongiovanni et al. weisen in einem Kommentar zu der Studie darauf hin, dass der Einsatz von standardisierten komplexen Schmerztherapie-Schemata durch Klinikinformationssysteme mit elektronischer Arzneimittelverordnung erleichtert wird [1]. Dadurch könnte ein undifferenzierter Einsatz von multimodalen Schmerztherapieschemata gefördert werden. Eine andere aktuelle retrospektive Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass der perioperative Einsatz von Gabapentin sogar mit einem höheren Risiko einer Opioid-Überdosierung assoziiert war [2]. Auch wenn man berücksichtigt, dass Therapieschemata mit Gabapentin vor allem bei Patienten mit (zu erwartenden) stärkeren Schmerzen eingesetzt wurden, wird durch diese Daten doch in Frage gestellt, ob das Ziel, andere Analgetika einzusparen, durch den Einsatz von Gabapentin als Teil eines standardisierten Schemas wirklich erreicht wird.

Diese Überlegungen zeigen, dass bei älteren Menschen das perioperative Schmerzmanagement sehr individuell an den Bedarf des Patienten angepasst werden muss, um einerseits eine Gefährdung durch postoperativen Schmerz, andererseits Komplikationen durch unangepasste Analgetika-Dosierungen zu vermeiden. Standardisierte Schmerzschemata können die Therapie erleichtern, entbinden aber nicht von einer individuellen Anpassung der Dosis an den aktuellen Bedarf und an das persönliche Risikoprofil des Patienten.



Publication History

Article published online:
31 May 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany