Z Sex Forsch 2023; 36(01): 41-43
DOI: 10.1055/a-2011-4207
Bericht

UMBRÜCHE: Sexualwissenschaft im Rahmen gesellschaftlicher Kontroversen

Tagungsbericht zur 27. Wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung
Solveigh P. Lingens
1   Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Andreas Hill
1   Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
2   Klinik für Forensische Psychiatrie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
3   Praxisgemeinschaft für Psychotherapie, Hamburg
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Vom 16.–18. September 2022 fand im schönen und geschichtsträchtigen Harnack-Haus der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin die Wissenschaftliche Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) unter dem Leitwort „Umbrüche“ statt. Umbrüche wurden an den Themen der Vorträge und Diskussionen deutlich, von der Selbstbestimmung bei Varianten der Geschlechtsentwicklung, über De-Transition bei Geschlechtsidentitätsstörungen bis hin zur Rolle von Wissenschaft in Zeiten von „Polarisierung“ und „Fake News“ im öffentlichen und medialen Diskurs und zu Aufarbeitungen problematischer historischer Positionen dieser Fachgesellschaft. Umbrüche wurden aber auch durch ein gelungenes Tagungserlebnis spürbar, sei es durch den „Porno-Raum“, in dem die Porno-Entrepreneurin, Regisseurin und Darstellerin Paulita Pappel vor laufenden Videoausschnitten Fragen rund ums professionelle Porno-Business beantwortete, oder durch das rein vegetarische Catering. Die erstmalige Verleihung des Promotionspreises der DGfS an Dr. Thula Koops und Dr. Julia Sauter lässt auf strukturelle Umbrüche der DGfS schließen: jünger und weiblicher*. Nach über zwei Jahren Corona-Pandemie mit vielen Online-Tagungen markiert auch eine Präsenztagung mit ausgelassenem Tagungsfest einen Umbruch.

Der leidenschaftliche, rechts- und gesellschaftskritische Eröffnungsvortrag des Strafrechtlers Prof. Dr. Thomas Fischer ermöglichte Einblicke in das komplexe Zusammenspiel von Strafrecht, Gesellschaft und Sexualität. Dabei reflektiere das Strafrecht die Veränderungen in der gesellschaftlichen Betrachtung von Sexualität. Umstritten bleibe, ob das Strafrecht Einfluss auf die Gesellschaft nehme. Am Ende sei es dessen Aufgabe, Gesetze anzuwenden und umzusetzen, und nicht, Moral und Ethik zu definieren. Auch gehe es immer um die Nachweisbarkeit von Straftaten, sodass die #metoo-Welle zwar eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Zusammenhänge von Sexualität, Macht und Gewalt initiiert, jedoch bisher keinen relevanten Einfluss auf die Rate von Verurteilungen sexueller Übergriffe gehabt habe.

Ein weiterer juristischer Vortrag von Prof. Dr. Katharina Lugani bemühte sich erfolgreich, dem Jura-ferneren Publikum den rechtlichen Rahmen der medizinischen Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung zu erläutern, der mit dem § 1631e BGB im Mai 2021 in Gesetzeskraft getreten ist. Das Gesetz sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, jedoch nicht ausreichend. So dürfe ein einwilligungsfähiges Kind zwar selbst über chirurgische Maßnahmen entscheiden, die Definition von Einwilligungsfähigkeit bleibe jedoch schwammig und das Gesetz biete zu viel Auslegungsspielraum. Es bestehe die vorwiegend genutzte Möglichkeit, bei positiver ärztlicher Stellungnahme für den richterlichen Entschluss ein Eilverfahren zu wählen, bei dem es meist zur Genehmigung ohne gerichtlichen Prozess komme. Das spiegle sich auch in der klinischen Realität wider: einer unveränderten Anzahl chirurgische Eingriffe an Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung seit Einführung des Gesetzes. Bei einer Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Lugani, Ursula Rosen, 2. Vorsitzende von Intergeschlechtliche Menschen e. V., sowie Sel Arndt, Peer-Berater*in, wurde betont, dass das Gesetz Kinder nicht ausreichend schütze und dass Kinder die Chance bekommen sollten, mit Betroffenen zu sprechen. Dies gelte insbesondere, wenn es sich um Entscheidungen über irreversible operative Eingriffe handele.

Es folgten Kurzinputs zu aktuellen Forschungsprojekten: Prof. Dr. Johanna Schröder, Psychologische Psychotherapeutin, sprach über Sexualität während der COVID-19 Pandemie. In einer deutschlandweiten Studie gaben 75.6 % der Befragten an, Veränderungen in sexuellen Erfahrungen zu erleben – mit einer Veränderung von Quantität und Qualität sexueller Aktivitäten, von häufigeren sexuellen Fantasien, einem gesteigerten Pornografie-Konsum und einer Abnahme von Treffen über Dating-Apps. In einer türkisch-europäischen Studie gaben zusammenwohnende Paare zu 28.5 % eine Steigerung und 18.5 % eher eine Reduktion des sexuellen Verlangens in Bezug auf ihre Partner*innen an, was beides positiv mit der Stärke der Sorgen über COVID-19 korrelierte. Laut einer weltweiten Studie sind die Zufriedenheit mit dem Sexualleben, der Zugang zu Kontrazeptiva und Testungen von sexuell übertragbaren Erkrankungen durchschnittlich gesunken. Laura Pietras, Psychologin, stellte ihre Arbeit über Beziehungsnähe – gemessen mit der Skala „Inclusion of Other in the Self“ (IOS) – und Paarsexualität vor. Die Beziehungsnähe stehe im positiven Zusammenhang mit sexueller Zufriedenheit und führe zu weniger Leidensdruck bei sexuellen Problemen. Jedoch könne sich die Diskrepanz zwischen der aktuell erlebten Beziehungsnähe und der gewünschten Beziehungsnähe negativ auf die Beziehung und Zufriedenheit auswirken. Dr. Verena Klein, Psychologin, untersuchte die Einflussfaktoren, insbesondere die Rolle des Entitlement (deutsch: Anspruchshaltung), beim Phänomen der „Orgasmuslücke“ bei heterosexuellen Paaren. In einer der vorgestellten Studien stellte sie den Proband*innen eine kurze Geschichte vor, in der ein heterosexuelles Paar Sex hatte und keiner zum Orgasmus kam. Dann fragte sie: „Wer soll den Orgasmus bekommen?“ Die Teilnehmenden, unabhängig vom eigenen Geschlecht, empfanden, dass Männer mehr Anrecht hätten, weil der männliche Orgasmus einfacher zu erreichen sei, Männer in Kontrolle seien, es wichtiger für Männer sei und Männer ohne den Orgasmus eher negative Gefühle hätten. Dies verdeutlichte eindrücklich mögliche psychosoziale Einflussfaktoren auf das Phänomen der Orgasmuslücke bei heterosexuellen Paaren. Jeanne Desbuleux, Psychologin, machte auf die kontroversen Debatten über hochrealistische Sexpuppen aufmerksam. In der vorgestellten Studie war der durchschnittliche Nutzer von realistischen Sexpuppen männlich, single, heterosexuell und 43 Jahre alt. Die eine Hälfte bezeichnete die Sexpuppe als Spielzeug. Die andere sah sie als Partnerin und zeigte eine positive Korrelation zwischen dem Level der Vermenschlichung der Puppe und der Feindseligkeit gegenüber Frauen. Im Durchschnitt seien jedoch bei den Befragten der Konsum von Pornos, gewalttätige bzw. übergriffige sexuelle Fantasien und das Aufsuchen von Sexarbeitenden seit Anschaffung einer solchen Puppe gesunken. Gezeigt wurde, dass mit wachsendem Angebot und Nachfrage der Anspruch an die Wissenschaft wachse, Vorurteile ggf. zu korrigieren und diese Lebenswelten zu beforschen – mit resultierenden ethischen und rechtlichen Fragestellungen.

Umbrüche berührten auch drei Vorträge zum Thema De-Transition. Eine Betroffene setzt sich mit Zeichnungen und Infobroschüren für die Aufklärung über De-Transition von trans* Menschen ein. Sie beschreibt ihre Transition und die anschließende Realisierung, dass das Leben als trans Mann nicht zu einer Verminderung ihres Leidensdrucks geführt habe. Die Ablehnung ihres Körpers sei eher durch ihre Anorexie sowie durch internalisierten Frauenhass und Homophobie erklärbar. Sie wolle Personen, die eine Transition anstreben, motivieren, auch alternative Erklärungen für ihr Empfinden zu suchen. Auf die Frage, ob sie sich damals anders entschieden hätte, wäre die Therapeutin kritischer gewesen, antwortete sie ehrlich: „Wahrscheinlich nicht.“ Umso wichtiger sei es aber, Unterstützungsangebote für Personen, die eine De-Transition anstreben, zu schaffen. Der Urologe Prof. Dr. Jochen Heß berichtete über die verschiedenen, oft eingeschränkten medizinischen Möglichkeiten einer De-Transition. Laut einer Metaanalyse gebe es weniger als 1 % chirurgische De-Transitionen. Davon begründeten 8.1 % die Entscheidung mit einer Unzufriedenheit über die medizinischen Ergebnisse der Transition, während am häufigsten soziale oder geschlechtsbezogene Gründe benannt würden. PD Dr. Timo Nieder, Sexualwissenschaftler, Psychologischer Psychotherapeut sowie Sexualtherapeut, fasste die wissenschaftlichen Erkenntnisse über mögliche Zusammenhänge zwischen Non-Binärität und De-Transition zusammen. Zunächst verwies er noch auf die neue, 8. Version der „Standards of Care für Transgender Gesundheit“ der World Professional Association for Transgender Health. Risikofaktoren für De-Transitionen sollten vor dem Hintergrund der Zunahme non-binärer Identitäten in der Gesundheitsversorgung und den damit häufig verschränkten Erfahrungen von Diskriminierung und Invalidierung kritisch gewürdigt werden. Zudem verwies Timo Nieder darauf, dass in den Bereichen Non-Binarität und De-Transitionen auch Chancen für individuelle Entwicklungen liegen, die sich von den etablierten Geschlechternormen emanzipieren.

Die nachfolgende intensive Diskussion fokussierte Schlussfolgerungen für Behandler*innen und die Herausforderung, eine Balance zwischen Hinterfragen einerseits und unterstützter und informierter Entscheidungsfindung andererseits zu halten. Die Entwicklung einer vertrauensvollen und wertschätzenden therapeutischen Beziehung sei dabei maßgebend, um einen Raum zu schaffen, in dem mögliche Zweifel geäußert werden können. Letztendlich müsse jedoch jede Person die Entscheidung selbst treffen und auch die Konsequenzen verantworten.

Die anschließende Poster-Session ermöglichte Gespräche mit den Forschenden u. a. zu Masturbation im Tierreich, dem „Adult Baby Syndrome“, sexualpädogogischen und -forensischen Themen sowie Kunst und Sexualität.

Der letzte Tag beleuchtete die Beziehung von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit. Prof. Dr. Friederike Herrmann, Journalistin und Kommunikationswissenschaftlerin, erläuterte, wie Journalist*innen Themen auswählten, die wiederum die Gesellschaft beeinflussten. Schon die Auswahl der (wissenschaftlichen) Fakten transportiere eine Meinung. Guter Journalismus wähle jedoch die Quellen nicht nach der eigenen Position aus. Die Wissenschaft fungiere als vorläufiges und korrigierbares Wissen. Sie wünsche sich für die Zukunft des Journalismus und der Medien: mehr Streiten, weniger Polarisieren.

PD Dr. Livia Prüll, Medizinhistorikerin und Ärztin, behandelte die Frage „Was ist eine Expert:in?“. Sie begann mit der Entwicklung der Definition von Expert*innen im 19. Jahrhundert, die zunächst dem akademischen Milieu zugesprochen worden sei. Heute könne jede thematisch involvierte Person am Expertentum teilhaben. So seien Betroffene lange nicht als Expert*innen für ihre Erfahrung ernst genommen worden. Die Lebenserfahrung von Betroffenen gewinne in vielen wissenschaftlichen Disziplinen an Bedeutung und wirke zunehmend an Wissenschaft mit. Fazit: Der Zugang zum Expertentum sei grundsätzlich offen – nur müsse die entsprechende Person auch die eigenen Grenzen reflektieren, um sinnvoll mitdiskutieren zu können.

Prof. Dr. Meike Baader, Erziehungswissenschaftlerin, thematisierte Involviertheit, Verantwortung und Aufarbeitung der Wissenschaft hinsichtlich sexualisierter Gewalt. Am Beispiel des Sexualpädagogen Helmut Kentler (1928–2008) stellte sie die Rolle von Wissenschaft in der Legitimierung von Pädosexualität dar. So habe Kentler seinen „Expertenstatus“ sowie seine Machtposition genutzt, um Pädosexualität als notwendige pädagogische Maßnahme zu deklarieren, die dem Narrativ der „Erziehung durch Schläge“ entgegengesetzt worden sei. Erst der Feminismus habe Kritik an dem Pädophilie-Diskurs Ende der 1980er aufgeworfen. Heute seien bei der Aufarbeitung dieser Positionen und Diskurse geläufige Abwehrstrategien u. a. die Historisierung (der „andere“ Zeitgeist wird als Legitimierung für die Taten verwendet), das Othering (die Abwertung und Distanzierung von den beschuldigten Personen, was ein positives Selbstbild erzeugt) oder die Exotisierung (eine Strategie des Othering, bei der betroffenen Menschen meist positive Attribute zugeschrieben werden und so als grundlegend anders und implizit als „unzivilisiert“ dargestellt werden, z. B. freizügige Sexualität) hinderlich. Wichtig sei, dass bei der Aufarbeitung auch Betroffene mitwirkten. Noch heute gelte, dass die Verschmelzung von Wissenschaft und Aktivismus gefährlich sei, vor allem, wenn sich einzelne Machtpositionen entwickeln würden. Damals wie heute helfe es, sich zu belesen, zu hinterfragen und in jedem Fall die Stimme zu erheben.

Die wiedergewählte erste Vorsitzende Prof. Dr. Katinka Schweizer schloss die Tagung mit einem Ausblick auf zukünftige Übergänge, die bekanntlich auf Umbrüche folgten. Die Tagung imponierte mit ihrer Interdisziplinarität und differenzierten Debatten über Themen, die sich aus den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüchen für die Sexualwissenschaften ergeben.



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Article published online:
14 March 2023

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