Psychiatr Prax 2023; 50(04): 221-222
DOI: 10.1055/a-2055-1451
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NS-Krankenmorde im Theater: Kritik der Psychiatriekritik

Am 28.02.2023 erschien in der Süddeutschen Zeitung eine ausführliche Rezension über das Stück „Frauen der Unterwelt“ des Staatstheaters Augsburg – „ein packender Text über die Krankenmorde der Nationalsozialisten“ [1]. Es handelt sich um eine sehr engagiert und empathisch geschriebene Rezension über ein ebenso empathisch-engagiertes Theaterstück („Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte“ von Tine Rahel Völcker). Einige Zitate aus der Rezension: „Frieda W. schläft mit Männern gegen Geld, die Kinder müssen ja von irgendwas leben. Frieda W. wird in die Psychiatrie eingewiesen, Diagnose „übergeschnappt“, sie wird getötet, vermutlich am 17. März 1941. Oder Johanna S., die von ihrem Freund verlassen wird und dann zusammenbricht, eingewiesen und ermordet wird.“ Die Rezensentin führt weiter aus: „In biographisch skizzierten Szenen schildert Völcker sieben Schicksale, die jeweils mit dem Tod der Protagonistin in einer Anstalt enden. Es war ein Leichtes, Frauen als „erbkrank“ zu diagnostizieren, als ‚hysterisch‘, nicht würdig, Kinder zu gebären.“ „Die Diagnosen sind auch eine männliche Machtdemonstration und beinhalten oft ein Urteil über den Lebenswandel einer Frau, das legt Völckers Text nahe. Bei weitem scheint nicht jede ihrer Figuren wirklich „geisteskrank“ zu sein.“ „Die Grenzen waren in der Bewertung fließend, einen Grund, eine Frau in eine Psychiatrie einzuweisen, fand sich jedenfalls immer.“

Dieses psychiatriekritische Narrativ, das sowohl die Autorin des Stücks als auch die Rezensentin benutzen, beschränkt sich im wiederkehrenden öffentlichen Diskurs keineswegs auf die NS-Psychiatrie. Am stärksten auch theoretisch untermauert war es in der Antipsychiatrie-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre [2] [3] [4], es ist weiter präsent in den Stellungnahmen des UN-Komitees zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der WHO mit einer Generalkritik professionellen psychiatrischen Handelns [5] [6]. Wie die eindrucksvolle Monographie von Cornelia Brink [7] detailreich ausführt, gibt es die Psychiatriekritik im Hinblick auf Diagnosestellungen und Einweisungen bereits seit dem Ausbau des Anstaltswesens ab ca. 1860, mit einem Höhepunkt und starkem Widerhall in der Öffentlichkeit im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Auch damals war das Thema bereits im Theater – womit im übrigen die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen in keiner Weise relativiert werden soll. Brink zitiert aus einem Bericht über die Berliner Friedrichstraße von 1895 ([7], S. 146): „Im Begriff, in eine Seitenstraße einzubiegen, warf er unwillkürlich einen Blick auf eine Anschlagsäule; eine Vorstellung im Theater zu Halensee sollte die Schandthaten des Bruder Heinrich einschließlich kalter Douche auf der Bühne darstellen. Der Verfasser fuhr aber am Abend nach dem Schlesischen Bahnhof und wohnte einer Vorstellung im Nationaltheater in der Frankfurter Straße bei, der Aufführung eines Stückes, das den Namen ‚im Irrenhause‘ führte. (…) Nach Schluß der Vorstellung in einem Café einige Zeitungen überfliegend, fand der Verfasser dieselben gefüllt mit Artikeln und Berichten zur Irrenfrage“. Die starke feministische Akzentuierung in der Rezension der Süddeutschen Zeitung ist ein – berechtigter – neuerer Gesichtspunkt, aber in historischer Sicht eine Variante des stets präsenten Themas. Grundsätzlich muss sich die Psychiatrie diesen Fragen auch immer wieder stellen und sich in Frage stellen lassen – ist sie ein Instrument der sozialen Kontrolle? Werden Menschen, die lediglich irgendwelche Formen devianter Verhaltensweisen zeigen, deswegen mit medizinischen Diagnosen versehen und ihrer bürgerlichen Rechte beraubt? Die Frage ist keineswegs ausgestanden, so etwa in den vielfältigen Diskussionen um den Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention, zu denen auch das Bundesverfassungsgericht bereits wiederholt Stellung bezogen hat. Die heutige Antwort der Medizinethik, vertreten etwa durch den deutschen Ethikrat, ist die Grenzziehung an der Frage der Entscheidungsfähigkeit (nicht medizinischer Diagnosen), die Eingriffe in Freiheitsrechte begründen kann. Diese Art von Psychiatriekritik kann man immer wieder vorbringen und man kann sich auch immer wieder damit auseinandersetzen.

Das Problem im Zusammenhang mit den Krankenmorden ist ein ganz anderes und es wird leider weder von der Autorin noch von der Rezensentin bemerkt: Sie klagen den Umstand an, dass Menschen getötet wurden, nur weil sie in irgendeiner Weise „störend“ gewesen seien oder eben unangepasste Frauen, die in Wirklichkeit aber gar nicht an einer „richtigen“ psychischen Erkrankung gelitten hätten. Dieses Narrativ impliziert, dass der Mord an diesen Menschen besonders verwerflich war, weil es sich nicht um „wirkliche“ Geisteskranke gehandelt habe. Umgekehrt, wenn die von den Ärzten gestellten Diagnosen doch zutreffend waren, wären die Morde denn dann weniger verwerflich gewesen? Genau dies ist ja das „Euthanasie“-Motiv der Nationalsozialisten gewesen. Ohne dies beabsichtigt zu haben, nimmt die Psychiatriekritik genau diese unheilvolle Idee auf. Ich würde mir viel lieber ein Theaterstück wünschen, das mit der Botschaft ankommt, dass die Ermordung von Patienten unter allen Umständen unerträglich ist, ganz unabhängig davon, ob sie Opfer einer vermeintlichen Fehldiagnose waren oder tatsächlich schwere chronische psychische Erkrankungen oder Behinderungen hatten, verrückt, gebrechlich oder verwirrt waren. Die fein vorgenommenen Abstufungen in mehr oder weniger „lebensunwertes Leben“ und „bessere“ und „schlechtere“ Patienten war genau das perfide Instrumentarium, das die Nationalsozialisten über viele Jahre vorbereitet und eingeführt hatten. So erlaubten sie zum Beispiel Anstaltsleitern, als zunehmend das Ziel der berüchtigten Krankentransporte durchgesickert war, jeweils nach eigenem Gutdünken besonders „gute“ (arbeitsfähige) Kranke zurückzuhalten. Eine solche Abstufung und Relativierung des Lebenswerts in Abhängigkeit von der psychischen Verfassung ist nicht neu in der Psychiatriekritik. Erstaunlich wenig kritisch reflektiert ist die Kernbotschaft am Ende des Klassikers „Einer flog übers Kuckucksnest“ (Filmfassung 1975). Der Protagonist Randle McMurphy (Jack Nicholson), der eine psychische Erkrankung lediglich vorgetäuscht hatte, hat am Ende durch die Elektrokrampftherapie, der er von Psychiatern und einer sadistischen Krankenschwester zwangsweise unterzogen wurde, einen scheinbar schweren Hirnschaden erlitten. Der Film endet mit der bekannten Erlösungsszene, in der der schweigsame Mitpatient ihn mit einem Kissen erstickt und so von seinem mittlerweile „lebensunwert“ gewordenen Leben befreit und dann selbst in die Freiheit ausbricht. Eine Kritik der Psychiatriekritik ist dringend nötig, und zwar unter vielen fundamental ethischen Gesichtspunkten.

Tilman Steinert, Weissenau

Tilman.steinert@zfp-zentrum.de



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Article published online:
09 May 2023

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  • Literatur

  • 1 Süddeutsche Zeitung, 28.2.2023. Am Staatstheater Augsburg inszeniert Nicole Schneiderbauer "Frauen der Unterwelt" – ein packender Text über die Krankenmorde der Nationalsozialisten. Von Christiane Lutz
  • 2 Geisteskrankheit – ein moderner Mythos? Grundzüge einer Theorie des persönlichen Verhaltens. Olten/Freiburg: Carl Auer Verlag; 1972 (Orig.: The Myth of Mental Illness. Foundations of a Theory of Personal Conduct. New York, 1961)
  • 3 Die Fabrikation des Wahnsinns. Olten/Freiburg: Carl Auer Verlag; 1974 (Orig.: The manufacture of madness. A comparative study of the inquisition and the Mental Health Movement. New York, 1970)
  • 4 Foucault M. Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; 1973
  • 5 United Nations, Human Rights Council, 2nd session, 1. Feb. 2013. Report of the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment, Juan E. Méndez www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/HRBodies/HRCouncil/RegularSession/Session22/A.HRC.22.53_English.pdf
  • 6 World Health Organization (2019). Freedom from coercion, violence and abuse: WHO QualityRights core training: mental health and social services: course guide. World Health Organization https://apps.who.int/iris/handle/10665/329582, accessed 12/15/2022
  • 7 Brink C. Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980. Göttingen: Wallstein; 2010