Psychiatr Prax 2023; 50(04): 222-223
DOI: 10.1055/a-2061-0143
Media Screen

Religiöser Glaube und Spiritualität

Zoom Image
Mönter, Norbert: Religiöser Glaube und Spiritualität – Wandel und Vielfalt aus Psychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht. Stuttgart: Kohlhammer; 2022. 177 Seiten, Kart. € 44,00.ISBN 978-3-17-039182-6

In der Buchreihe „Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie - Karl Jaspers-Bibliothek“ (Hrsg. Matthias Bormuth, Andreas Heinz und Markus Jäger) ist im Mai 2022 ein bemerkenswertes Buch über die psychiatrische resp. psychotherapeutische Sicht auf den religiösen Glauben und Spiritualität erschienen. Autor ist Norbert Mönter, Neurologe, Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker, der über mehr als 30 Jahre in niedergelassener Praxis (Berlin) tätig war und der sich bereits 2020 im Buch „Religionssensible Psychotherapie und Psychiatrie“ als Mitherausgeber und Autor mit dem Verhältnis von Psychiatrie und Religion befasst hat. In seinem aktuellen Buch geht es Mönter nun um den Wandel und die Vielfalt religiösen Glaubens, wie diese aus der Perspektive eines über Jahrzehnte in der alltäglichen psychiatrischen /psychotherapeutischen Versorgung erfahrenen Praktikers zu verstehen ist. Welche Rolle spielten u. a. Angst, Ritual, Mythos, Reflexion , Macht und das Verhältnis von Wissen und Glauben bei der Herausbildung religiösen Glaubens? Glauben im psychologischen Sinne wird dabei vom Autor verstanden „als eine elementare imaginativ-affektiv-kognitive Mischfunktion menschlicher Psyche“; sie sieht er als Basis zwischenmenschlichen Vertrauens, was er ausführlich und interessant zu begründen versteht. Angesprochen werden vom Autor auch die Folgerungen, die sich aus dieser breit angelegten Betrachtung ergeben: für das Individuum, das Menschenbild in der Psychiatrie/Psychotherapie und vor allem für die Perspektiven der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung. Die Behandlungserfahrung des Autors ist auch insofern ein bemerkenswerter Ausgangspunkt, als sein Praxis-Standort Berlin einerseits eine überdurchschnittlich säkulare Metropole ist, sich hier aber gleichwohl eine immense Vielfalt innerhalb der großen Religionen und viele kleine Religionsgemeinschaften finden. Mönter geht en détail in einem Kapitel auf diese besondere Situation und die dazugehörende Geschichte der Stadt ein. Dabei schildert er auch den im türkisch- und arabisch-stämmigen Bevölkerungsteil des heutigen Berlins verbreiteten Umgang mit den sogenannten Djinns wie auch die Position der katholischen Kirche zum Exorzismus.

Seinen therapeutischen Ausgangspunkt beschreibt Mönter wie folgt: „Wer in der psychiatrischen Behandlung den Patienten ernst nimmt, muss auch dessen subjektive Sicht und die ganz persönliche Seite seines Leidens … in der Therapie berücksichtigen. Die subjektive Sicht des Patienten beinhaltet auch seinen Glauben oder seine Weltanschauung und natürlich auch seine religiöse Gemeinschaft“ (S.15)

Diesem Grundgedanken folgend gibt das Buch einen Überblick beginnend mit den je nach religiös-kulturellem Kontext unterschiedlichen Definitionen von religiösem Glauben. Ausführlich ist der historische Rückblick von den wissenschaftlich vermuteten frühesten Anfängen religiösen Glaubens bis zur „Achsenzeit“ mit einer ausführlichen Diskussion des diesbzgl. Jasperschen Theorems. Danach erfolgte zwischen 800 und 300 v.Chr. die entscheidende Hinwendung zum Monotheismus und es begann des Logos gegen den Mythos; der Mensch wurde zu dem, wie er heute ist. In dieser Achsenzeit findet sich auch der Beginn des selbstreflexiven Denkens („kognitiver Durchbruch“) einschließlich erster psychotherapeutisch zu verstehender Menschenbilder und Verhaltensanalysen.

Einen großen Umbruch im Verhältnis von Religion und Psychiatrie beschreibt Mönter für das Zeitalter der Aufklärung: Es geht um den Umbruch im gesellschaftlichen Denken und die Entwicklung der Psychiatrie als eine von religiösen Grundüberzeugungen weitgehend sich ablösende, eigenständige Wissenschaft. Sehr informativ und interessant zu lesen ist die Aufarbeitung religiösen Denkens und Glaubens der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, gerade wegen ihrer großen Unterschiedlichkeit. Auf die Zeit der Aufklärung kommt der Autor im Kapitel „Seelische Gesundheit und Mündigkeit - zwei Seiten einer Medaille“ zurück und arbeitet die Bedeutung des Kantschen Begriffes „Vernunftreligion“ und die von ihm geforderte Mündigkeit („sapere aude“) für das dynamische Verständnis von der Gesundheit und den Konsequenzen für den heutigen mündigen Bürger heraus.

In seiner Darstellung der einzelnen Weltreligionen geht Mönter auch den wissenschaftlichen Prognosen für Religiosität nach wie u. a. dem religiösem Fanatismus und den „Ersatzreligionen“. Sein Ausblick auf die Verbindung von Religion, Staat und Gesellschaft wird ergänzt durch einen instruktiven Beitrag über die historische Rolle der russisch-orthodoxen Kirche und deren Nutzung für die aktuelle russische Politik.

Immer wieder kommt Mönter aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf die psychiatrisch relevante individuelle Glaubensbildung als Ausdruck der Identitätsentwicklung zurück. Statements mehrerer muslimscher, christlicher bzw. christlich geprägter und atheistischer Therapeut*innen aus dem Berliner Arbeitskreis Religion & Psychiatrie unterstreichen die subjektiven Sichtweisen auf das Thema Religiosität und Spiritualität im therapeutischen Kontext.

Bezugnehmend auf Karl Jaspers‘ philosophische Fragen „nach dem Wesen des Menschen“ und den unterschiedlichen Menschenbildern in Psychiatrie und Psychotherapie beschreibt Mönter den religiösen Glauben, die Fähigkeit zur Spiritualität (die diesbezügliche „Begabung“) und zur Selbst-Transzendenz als eine wichtige Ressource im Heilungsprozess. Er weist hin auf die diesbezüglich vielen Erlebnisbereiche von Musik und Bewegung, bildender Kunst, Literatur, über Naturerleben, Begegnung, Beten/ Meditation bis hin zu sakramentalen Formen der Selbsttranzendenz. Im Sinne von Goethes Satz „Musik fängt dort an, wo Worte enden“ könnte so gesagt werden, religiöser Glaube und Spiritualität geben Antworten, wo Worte versagen. Religiöser Glaube und Spiritualität können Menschen mit psychischen Erkrankungen, die häufig ihre innere Verankerung verloren haben, Halt und Kraft geben. Sie ermöglichen eine Erfahrung der Verbundenheit und des Aufgehoben-Seins. Dabei gehe es – so Mönter – dann therapeutisch um die Akzeptanz der subjektiven Seite und um eine Haltung der Ambiguitätstoleranz, die er als eine Kernkompetenz in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung im Umgang mit religiösem wie auch nicht-religiösem Glauben ansieht. Ambiguitätstoleranz „erfordert da, wo keine Eindeutigkeit gegeben ist, Mehrdeutigkeit anzunehmen, auszuhalten oder als Bereicherung zu erleben“ (S. 165).

Last not least sei aus der breiten Thematik des Buches noch auf die sachkundige Darstellung des neurobiologischen Hintergrundes religiösen Glaubens resp. der „freien“ Entscheidung für oder gegen religiösen Glauben hingewiesen.

Die Fähigkeit von Norbert Mönter, das mit Religiosität verbundene komplexe Themenfeld im Kontext von Psychiatrie und Psychotherapie verständlich darzustellen sowie ein neues Verhältnis von wissenschaftsbasierter Psychiatrie und religiös-spirituellem inklusive weltanschaulich geprägten Glauben des einzelnen Menschen und seiner Gemeinschaft zu vermitteln, inspiriert und begeistert bei der Lektüre. Interviews, insbesondere ein längeres Gespräch mit dem Doyen der deutschen Religionswissenschaften Prof. Peter Antes sowie einige Fotos religiös geprägter Motive lockern den Text auf und geben zusätzliche Anregungen. Bisweilen ist die Sprache, vor allem in den theoretischer ausgelegten Kapiteln, sehr fachlich und komplex. Da wären bisweilen einfachere Satzkonstruktionen hilfreicher gewesen. Nun sind die einzelnen Themen (Kapitel) jeweils für sich lesbar, wenngleich sie einen stringenten Gesamt-Aufbau zeigen. Leser werden so auch ihre eigenen Schwerpunkte finden, eigene Erfahrungen und Denkfiguren wiederfinden, aber sicher auch mit neuen Sichtweisen vertraut gemacht.

Für Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen sowie allen in der psychosozialen Versorgung Tätigen ist dieses Buch eine Bereicherung. Nicht zuletzt, da dieses Themenfeld weder in der Ausbildung noch in der Fort- und Weiterbildung in dieser Komplexität dargestellt wird. Der Behandlungsprozess und die therapeutische Beziehung werden in diesem Buch um wichtige Dimensionen, die weit über das klassische Therapieverständnis hinausgehen, erweitert. In diesem Sinne ist das Buch aufgrund seines ganzheitlichen Blickes auf religiösen Glauben und Spiritualität im Kontext von Psychiatrie und Psychotherapie allen zu empfehlen, die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung in einer neuen Verbindung mit Religion und Spiritualität sehen möchten. Über den engeren Leserkreis hinaus wendet sich das Buch auch breiter an Theologen und Seelsorger sowie ganz allgemein an Zeitgenossen, die religiösen und psychologischen Themen interessiert gegenüberstehen.

Götz Mundle, Berlin

E-Mail: dr.mundle@gzf-berlin.org



Publication History

Article published online:
09 May 2023

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany