Z Sex Forsch 2009; 22(1):  1-12
DOI: 10.1055/s-0028-1098845
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Raumkonstruktion beim Cybersex

Arne Dekker
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Publication Date:
24 March 2009 (online)

Übersicht:

Der Autor betrachtet das Internet nicht – wie so häufig – als ein gefährliches Medium, sondern aus raumsoziologischer Perspektive als ein Ergebnis sozialer Praxis. Beim Cybersex, so seine These, lassen sich zwei unterschiedliche Arten der Raumkonstruktion beobachten, die die sexuellen Erfahrungen und die Körpererfahrungen der Beteiligten maßgeblich prägen. Ausgehend von seiner Analyse 20 qualitativer Interviews arbeitet er diese beiden Raumformen heraus und zeigt, weshalb sich virtuelle Räume nicht klar von realweltlichen Räumen abgrenzen lassen und weshalb virtuelle Räume niemals körperlose Räume sind. Abschließend diskutiert er das emanzipatorische Potenzial von Internet­sexualität entlang der neuen räumlichen Kategorien. 

Literatur

1 Gerade mit Blick auf Sexualität im Internet existieren zudem empirische Untersuchungen, die belegen, dass ein Teil der im Internet angebahnten sexuellen Kontakte auch auf realweltliche sexuelle Begegnungen hinaus läuft (vgl. zusammenfassend Döring 2008: 304 ff.).

2 Eine Einführung in Grundelemente sozialwissenschaftlicher Praxistheorien findet sich bei Reckwitz (2003).

3 Gerade die Mitte der 1990er-Jahre wegen ihres vermeintlich emanzipatorischen Potenzials gepriesene Möglichkeit zum virtuellen Geschlechtertausch im text­basierten Chat („Genderswapping“; vgl. z. B. Turkle 1995) wird allerdings, wie Coo­per et al. (1999) zeigen, von den wenigsten Usern tatsächlich genutzt.

4 Aus diesem Grund erscheint es unglücklich, bei der empirischen Untersuchung von Cybersex verschiedene Übertragungsdienste miteinander zu vergleichen. Denn wie diese Dienste genutzt werden und welche Wirkungen sie entfalten, hängt maßgeblich von der jeweiligen Raumkonstruktion und damit u.a. von den Syntheseleistungen der User ab. Mit den vorliegenden qualitativen Daten kann gleichwohl keine Aussage über die Häufigkeit utopischer bzw. heterotopischer Raumkonstruktionen bei Verwendung der verschiedenen Internetdienste getroffen werden.

5 Andreas Reckwitz zufolge richtet sich die Frage nach dem Subjekt darauf, welche spezifische kulturelle Form „die Einzelnen in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext annehmen, um zu einem vollwertigen Leben zu werden. [… Sie] zielt darauf ab herauszufinden, welches Know-how und welche Wunschstruk­turen, welche körperlichen Routinen und welches Selbstverständnis, welche ­Abgrenzungsformen nach außen und welche Kompetenzen, welche psychisch-affektiven Orientierungen und Instabilitäten der einzelne ausbildet, um jener ‚Mensch‘ zu werden, den die jeweiligen gesellschaftlichen Ordnungen voraussetzen“ (2008: 9 f.).

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A. Dekker

Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52

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Email: dekker@uke.uni-hamburg.de

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