physioscience 2009; 5(4): 174-183
DOI: 10.1055/s-0028-1109890
Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bezugswissenschaften der Physiotherapie: Soziologie und Gesundheitswissenschaften/Public Health

Reference Sciences of Physiotherapy: Sociology and Health Sciences/Public HealthG. Bollert1 , B. Borgetto2 , G. Geuter3 , H. Höppner4 , K. Hurrelmann3 , A. Probst2
  • 1Hochschule 21, Studiengang Physiotherapie
  • 2Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, FH Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Studiengang Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie
  • 3Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften – Arbeitsgruppe 6: Versorgungsforschung und Pflegewissenschaft
  • 4FH Kiel, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Studiengang Physiotherapie
Further Information

Publication History

eingereicht: 18.5.2009

angenommen: 3.6.2009

Publication Date:
23 November 2009 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Nachdem in 3 vorangegangenen Artikeln bereits 5 mögliche Bezugswissenschaften der Physiotherapie (Philosophie, Medizin, Sportwissenschaft, Pädagogik und Psychologie) vorgestellt wurden, behandelt der vorliegende und letzte die Soziologie und Gesundheitswissenschaften/Public Health. Während die Philosophie aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung für alle Wissenschaften den Anfang machte, folgte im 2. Beitrag die Vorstellung der Medizin und Sportwissenschaft, die sich beide sowohl durch eine historisch bedingte als auch starke inhaltliche Nähe zur Physiotherapie auszeichnen. Im 3. Artikel wurden die Pädagogik und Psychologie in ihrer Relevanz für die Physiotherapie untersucht –, 2 Disziplinen, die mit ihren zentralen Themen der Erziehung, Bildung und dem menschlichem Verhalten ihren Blickwinkel tendenziell auf individuelle Prozesse und Strukturen legen. Die nun vorzustellenden Disziplinen Soziologie und Gesundheitswissenschaften/Public Health zeichnen sich hingegen durch ihre gesellschaftliche Perspektive aus.

Ziel/Methode: Wie bereits in den vorangegangenen Beiträgen werden die Disziplinen in einem 1. Schritt von jeweils einem Experten hinsichtlich ihrer Entstehung als Disziplin und ihrer mit der Zeit herausgebildeten Teildisziplinen, ihrem jeweiligen zentralen Gegenstand und nicht zuletzt ihren aktuellen Herausforderungen vorgestellt. Im Anschluss zeigen 2 weitere Experten anhand von Beispielen das mögliche Transferpotenzial für die Physiotherapiewissenschaft auf.

Ergebnisse: Nicht nur vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen, steigenden Wettbewerbs und zunehmender Angebotspluralität im Gesundheitssektor wird es für die Physiotherapie zunehmend notwendig, sich nicht nur innerhalb der Berufsgruppe zu professionalisieren und weiterzuentwickeln. Vielmehr ist sie darüber hinausgehend dazu aufgerufen, sich in der Gesellschaft und im Gesundheitswesen zu verorten und ihre physiotherapeutische Kompetenz hinsichtlich der neuen Herausforderungen aktiv einzubringen. Sowohl die Soziologie als auch die Gesundheitswissenschaften stellen der Physiotherapie hierzu nutzbringende Perspektiven, Theorien, Methoden und Verfahren zur Verfügung.

Schlussfolgerungen: Aus allen in dieser Artikelreihe vorgestellten 7 Disziplinen kann eine angehende Physiotherapiewissenschaft für ihre weitere Entwicklung und Konstituierung wertvolle Impulse nutzen. Neben der Auseinandersetzung mit den vorgestellten Disziplinen gilt es, weitere Bezugswissenschaften zu erschließen und kritisch auf ihr Potenzial für die Physiotherapie zu überprüfen. Bedeutsam für alle Anleihen aus anderen Disziplinen ist dabei, dass ein angemessener Transfer der Perspektiven und Inhalte in physiotherapeutische Fragestellungen vollzogen und den jeweiligen Erkenntnissen nicht unreflektiert und eklektisch per se eine Bedeutsamkeit für den physiotherapeutischen Kontext zugeschrieben wird.

Abstract

Background: Since in three preceeding articles already five possible reference sciences of physiotherapy (philosophy, medicine, sports sciences, pedagogics and psychology) were portrayed this last one outlines sociology and health sciences/public health. While philosophy made the start due to its fundamental importance for all sciences the second article illustrated medicine and sports sciences which both are characterised by a historical and content closeness to physiotherapy. The third article investigated the relevance of pedagogics and psychology for physiotherapy, two disciplines which tend to focus on individual processes and structures. The two disciplines to be outlined in this article sociology and health sciences/public health, however, are characterised by their social perspective.

Objective/method: Like in the preceeding articles the disciplines are first outlined by an expert in view of their historical development as a discipline and their over the years emerging subsets, their central purpose and last but not least their current challenges. Following on from this two further experts substantiate exemplary the possible transfer potential for physiotherapy.

Results: Not only with the background of limited resources, growing competition and rising health products plurality in the health sector, it is becoming increasingly important for physiotherapy to professionalise and develop not only in its occupational group. It is rather called upon to position itself in society and its health-care system as well as to actively involve its physiotherapeutic competence in view of new challenges. Both sociology and health sciences offer physiotherapy useful perspectives, theories, methods and techniques.

Conclusions: A prospective physiotherapy science can use valuable impulses out of all seven disciplines portrayed in this article series for its further development and constitution. Apart from dealing with highlighted disciplines it is necessary to develop supplemental reference sciences and to critically investigate their potential for physiotherapy. In this process it is important for all loans from other disciplines to perform an appropriate objective and content transfer into physiotherapeutic questions and not attach great importance to the physiotherapeutic context per se without evaluation.

Literatur

  • 1 Antonovsky A. Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dt. erw. Herausgabe von Alexa Franke. Tübingen; dgvt 1997
  • 2 Aschoff F, Felder H. Fitness von Physiotherapieschülern. Pilotstudie mit dem Münchner Fitnesstest.  Zeitschrift für Physiotherapeuten. 2007;  12 1204-1217
  • 3 Bollert G, Erhardt T, Geuter G. et al . Bezugswissenschaften der Physiotherapie: Medizin und Sportwissenschaft.  physioscience. 2009;  5 76-85
  • 4 Bollert G, Dick M, Geuter G. et al . Bezugswissenschaften der Physiotherapie: Pädagogik und Psychologie.  physioscience. 2009;  5 124-132
  • 5 Borgetto B. Gesellschaft und Individuum. Borgetto B, Siegel A Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie. Eine Einführung in die sozialwissenschaftlichen Grundlagen des beruflichen Handelns Bern; Huber 2008
  • 6 Borgetto B. Methoden der empirischen Sozial- und Gesundheitsforschung. Borgetto B, Siegel A Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie. Eine Einführung in die sozialwissenschaftlichen Grundlagen des beruflichen Handelns Bern; Huber 2008
  • 7 Borgetto B. Sozialer Wandel und die Bewältigung chronischer Erkrankungen aus individualisierungstheoretischer Perspektive. Schaeffer D Bewältigung chronischer Krankheiten im Lebenslauf Bern; Huber 2009
  • 8 Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten e. V. (IFK) .IFK-Wirtschaftlichkeitsstudie 2008: Bald nur noch „Hausfrauenpraxen” bei Heilmittelerbringern. Dienst für Gesellschaftspolitik 2009 www.dfg-online.de
  • 9 Fries W, Lössl H, Wagenhäuser S. Teilhaben. Neue Konzepte der NeuroRehabilitation – für eine erfolgreiche Rückkehr in Alltag und Beruf. Stuttgart; Thieme 2007
  • 10 Geuter G, Bollert G. Das Rad nicht neu erfinden. Bezugswissenschaften unter der Lupe – was die Physiotherapie von anderen lernen kann.  Zeitschrift für Physiotherapeuten. 2007;  8 794-798
  • 11 Hillmann K H. Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart; Kröner 2007
  • 12 Höppner H. Gesundheitsförderung für Krankenschwestern. Ansätze für eine frauengerechte betriebliche Praxis im Krankenhaus. Frankfurt; Mabuse 2004
  • 13 Höppner H. Gesundheitswissenschaften: Orientierung für Physiotherapeuten in Prävention und Gesundheitsförderung. Hüter-Becker A, Dölken M Physiolehrbuch Basis: Prävention Stuttgart; Thieme 2008
  • 14 Höppner H, Viebrock H. Bedeutung des Konzeptes aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive. Viebrock H, Forst B Therapiekonzepte in der Physiotherapie: Bobath Stuttgart; Thieme 2008
  • 15 Höppner H. Sie haben die Wahl – gesundheitspolitische Perspektiven 2009 – 2013. Fachtagung des Bundesverbandes Managed Care.  Zeitschrift für Physiotherapeuten. 2009;  3 297-299
  • 16 Hurrelmann K, Laaser U, Razum O. Handbuch Gesundheitswissenschaften. Weinheim; Juventa 2006
  • 17 Hüter-Becker A. Ein neues Denkmodell für die Physiotherapie.  Krankengymnastik. 1997;  4 565-569
  • 18 Klemme B, Geuter G, Willimczik K. Physiotherapie – über eine Akademisierung zur Profession II.  physioscience. 2008;  5 83-91
  • 19 Luhmann N. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Teil 1 u. 2. Frankfurt; Suhrkamp 1997
  • 20 Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) des Landes Nordrhein-Westfalen .Empfehlende Ausbildungsrichtlinie für die staatlich anerkannten Physiotherapieschulen in NRW 2005. www.mags.nrw.de/.../ausbildungsrichtlinien-physiotherapie-nrw.pdf
  • 21 Probst A. Gesundheit als Koproduktion. Zukunftsfähigkeit von Organisationen des Gesundheitssystems am Beispiel des Krankenhauses. Zech R, Ehses C Organisation und Zukunft Hannover; Expressum 2001
  • 22 Probst A. Die soziale Konstruktion von Geschlecht in den Gesundheitsfachberufen. Eine qualitative Studie über die Bedeutung von Geschlecht für das Arbeitshandeln von Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen [Dissertation]. Hannover; Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität 2008
  • 23 Probst A, Kösling A. „Jeder erwachsene Mann war auch einmal Sohn” – Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in den Gesundheitsfachberufen. Haasper I, Jansen-Schulz B Key Competence: Gender Berlin; LIT 2008
  • 24 Remmers H. Pflegewissenschaft und ihre Bezugswissenschaften. Fragen pflegewissenschaftlicher Zentrierung interdisziplinären Wissens.  Pflege. 1999;  12 367-376
  • 25 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) .Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. 2007. (15.1.2009) www.svr-gesundheit.de/Gutachten/Gutacht07 /Kurzfassung% 202 007.pdf
  • 26 Walkenhorst U. Potenziale der Ergotherapie in der Gesundheits- und Krankenversorgung – Eine handlungsorientierte professionssoziologische Analyse. Idstein; Schulz-Kirchner 2008
  • 27 Weihrich M, Dunkel W. Abstimmungsprobleme in Dienstleistungsbeziehungen. Ein handlungstheoretischer Zugang.  Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 2003;  4 738-761
  • 28 Willimczik K. Sportwissenschaft interdisziplinär. Bd.2: Forschungsprogramme und Theoriebildung in der Sportwissenschaft. Hamburg; Czwalina 2003
  • 29 Willimczik K, Bollert G, Geuter G. Bezugswissenschaften der Physiotherapie: Philosophie – Mutter aller Wissenschaften.  physioscience. 2009;  5 27-33
  • 30 World Health Organisation (WHO) .Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung, und Gesundheit (ICF) 2005. www. dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/icf/endfassung/icf_endfassung-2005 – 10 – 01.pdf

Gunnar Geuter, M Sc PH

Wertherstr. 291

33619 Bielefeld

Email: gunnar.geuter@t-online.de

    >