Dtsch Med Wochenschr 1955; 80(1): 11-14
DOI: 10.1055/s-0028-1116323
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Zur Vektortheorie des EKG - zur Funktionselektrokardiographie Kienles und zum elektrischen Herzbild

Hans Schaefer
  • Physiologischen Institut der Universität Heidelberg (Direktor: Prof. Dr. H. Schaefer)
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Publication Date:
04 May 2009 (online)

Zusammenfassung

1. Entgegen den Behauptungen Kienles und in Übereinstimmung mit der Meinung namhafter Physiker ist das EKG einer vektoriellen Deutung sehr wohl zu unterwerfen.

2. Das unter idealen Bedingungen beobachtete Herz folgt mit hoher Exaktheit den für Dipole gültigen Gesetzen. Sein Feld ist das Feld eines Vektors. Hierfür gibt es mehrere Beweise.

3. Auch das unter nicht idealen Bedingungen beobachtete menschliche Herz entwickelt ein elektrisches Feld, das sich bis auf erträgliche Fehler wie ein Dipolfeld benimmt. Die Fehler stammen nicht daher, daß die Vektortheorie nicht anwendbar ist, wie Kienle meint, sondern aus den unvermeidbaren anatomischen Komplizierungen des Feldes. Sie sind für künstlich in das Herz eingeführte Dipole und für das EKG von gleicher Art und Größe.

4. Die Dipol- oder Vektortheorie gestattet, trotz der unvermeidlichen Fehlerbreite ihrer Werte, modellmäßig klar verständliche Aussagen über mögliche reelle Prozesse am Myokard, wie Leitungsgeschwindigkeit, Umkehr der Erregungswelle in Teilen der Herzwand usw. Analoge reelle Aussagen vermag das elektrische Herzbild nicht zu liefern.

5. Die den Kienleschen Arbeiten zugrunde liegende Modellvorstellung ist gänzlich unpassend, da die im Herzbild beobachteten Latenzen der R- und S-Gipfel nicht durch Laufzeiten von Erregungswellen bedingt sein können.

6. Selbst wenn dieses grundsätzliche Versagen der Modellvorstellung nicht vorläge, wäre nach dem Urteil des Schöpfers der elektrischen Herzbilder, Ernsthausen, ein Urteil nur über fiktive Größen möglich.

7. Das elektrische Herzbild kann daher keinesfalls etwas über die Funktion reeller Myokardteile aussagen. Der Name „Funktionselektrokardiographie” ist vollständig irreführend.

8. Das elektrische Herzbild wird de facto nur auf Grund empirischer Daten von seinen Autoren gedeutet. Die Grundlage dieser empirischen Deutung ist heute noch denkbar schmal, soweit das vorgelegte Material das beurteilen läßt.

9. Es besteht derzeit kein Grund, die neue Methode in irgend einem Punkt auch nur als klinisch gleichwertig, geschweige denn als überlegen zu betrachten. Sie ist im Stadium des Versuchs. Bestimmte Möglichkeiten partieller Abgriffe sind ihr ohne Frage zuzuerkennen.

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