Dtsch Med Wochenschr 1951; 76(33/34): 1001-1003
DOI: 10.1055/s-0028-1117370
Klinik und Forschung

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Das allgemeine Adaptationssyndrom als Grundlage für eine einheitliche Theorie der Medizin

2. Teil - Eine einheitliche Theorie der MedizinHans Selye
  • Professor und Direktor des Instituts für experimentelle Medizin und Chirurgie, Universität von Montreal, Canada
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Publication Date:
05 May 2009 (online)

Zusammenfassung

Wir haben gezeigt, daß es neben örtlichen, nicht spezifischen Reaktionen auf Schädigungen, wie z. B. die Entzündung, noch eine allgemeine, nicht spezifische Reaktion, das allgemeine Adaptationssyndrom, gibt.

Diese Beobachtungen führten zur Formulierung der Lehre vom „Biologischen Stress”. Die verschiedenen Einwirkungen, die das Adaptationssyndrom hervorrufen, tun das nicht infolge ihrer spezifischen Eigenschaften, sondern als Folge ihres unspezifischen Stress-Effektes.

Die Haupterscheinungen des Adaptationssyndroms zerfallen in zwei Kategorien, die der Schädigung und die der Abwehr. Bei der letzteren spielen gewisse Hypophysenvorderlappen- und Nebennierenrindenhormone eine hervorragende Rolle. Im allgemeinen hemmen ACTH und Glukokortikoide die Entzündungsfähigkeit des Bindegewebes, während STH und Mineralkortikoide sie anregen. So verhindern z. B. ACTH und Glukokortikoide Granulom- (Knötchen-) Bildung und allergische Reaktionen und setzen den Widerstand gegen Infektionen herab. In dieser und manch anderer Hinsicht haben STH und Mineralkortikoide entgegengesetzte Wirkungen.

Durch diesen doppelten Mechanismus kann das Adaptationssyndrom den Verlauf der Reaktion des Körpers auf viele ganz verschiedene Pathogene in verschiedenen Körperteilen beeinflussen.

Die während Stress gebildeten Hormone greifen die Pathogene selbst direkt nicht an, sie üben aber eine so wichtige Wirkung auf die Körperreaktion aus, daß es in vielen Fällen hauptsächlich von diesen Hormonen abhängt, ob eine Krankheit sich tatsächlich äußern kann. Die Krankheiten, die in erster Linie eine Folge von Entgleisungen des Adaptationssyndroms sind, sind „Adaptationskrankheiten” genannt worden.

Schließlich versuchte ich, diese Beobachtungen über das Adaptationssyndrom mit verschiedenen früheren allgemeinen Krankheitstheorien zu koordinieren.

Meiner Meinung nach können die Hauptgrundsätze der allgemein besprochenen Hauptheorien der Krankheitslehre nicht widerlegt werden, weil sie alle auf objektiven Beobachtungen beruhen. Der schwache Punkt aller dieser Theorien ist ihre Neigung, sich unter Ausschluß aller anderen Theorien durchsetzen zu wollen. Eine einheitliche Anschauung der Medizin muß sie alle umfassen können. Ich versuchte einen rohen Umriß von der Art und Weise zu geben, wie dies vielleicht mit Hilfe der Lehre vom Stress geschehen könnte.

Die Zukunft muß zeigen, ob eine solche einheitliche Theorie der Medizin von heuristischem Wert ist. Ihre Schwäche liegt hauptsächlich in ihrer Unbestimmtheit und der Unmöglichkeit, mit ihr die letzten Ursachen der Krankheit zu erklären. Sie scheint jedoch im Einklang zu stehen mit allen wichtigen Tatsachen in bezug auf die allgemeine Krankheitslehre, die heute feststehen, und sie schließt diese alle ein. Ich glaube kaum, daß eine Theorie zweckmäßig sein könnte, wenn sie weiter zu gehen versucht, als es die gesicherten Beobachtungen erlauben.

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