Dtsch Med Wochenschr 1949; 74(46): 1412-1415
DOI: 10.1055/s-0028-1121374
Gesundheitsfürsorge und Arbeitsmedizin

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Die sozialmedizinische Begutachtung der „Hirnverletzten”

K. J. Zülch
  • Sichtungsabteilung für Hirnverletzte (Leiter: Doz. Dr. Zülch) und der Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie des Gehirns am Max-Planck-Institut für Hirnforschung (Leiter: Prof. Dr. W. Tönnis)
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Publication Date:
02 June 2009 (online)

Zusammenfassung

Die Begutachtung der Kopfverletzten ist schwierig und war bisher ungleichmäßig, weil es an einheitlichen Richtlinien fehlte. Den „Hirnverletzten” der Versorgungsbestimmungen der Wehrmacht stehen die „Hirngeschädigten” in den Richtlinien der allgemeinen Versicherungsmedizin gegenüber. Beide müssen in Zukunft nach einheitlichen Gesichtspunkten begutachtet werden.

Wir gehen dabei aus von der Tatsache, daß sich die Absonderung einer Gruppe der „Hirnverletzten” mit einer Sonderbetreuung bewährt hat. Der Gesichtspunkt der Sonderbetreuung sollte daher zum übergeordneten Ausgangspunkt der Begutachtung werden. Die bisherigen Erfahrungen sprechen dafür, daß bei allen Patienten mit Hirnwunden die Dauerfolgen derart erheblich sind, daß sie automatisch in die Gruppe der Hirnverletzten überführt werden müssen. Bei den Patienten mit „gedeckten” Hirnschädigungen ist zu einem Zeitpunkt, wo die Verletzungsfolgen „bleibend” geworden sind — d. h. nach einem Jahr — zu entscheiden, ob die „Allgemeinschädigung” (Versehrtheit der Gesamtperson) oder das Ausmaß der Herdschädigungen eine Sonderfürsorge wünschenswert erscheinen lassen. Diese Patienten werden dann als Hirnverletzte anerkannt und in die Sonderfürsorge überwiesen. Es ist anzustreben, daß in den gesetzlichen Bestimmungen den „Hirnverletzten” eine Mindest-EM von 50% zuerkannt wird. Sollte das neue Gesetz diesen bisherigen Grundsatz fallen lassen, so ist zu fordern, daß die Begutachtung der Hirnverletzten nur durch Fachärzte mit besonderer Erfahrung auf diesem Gebiet vorgenommen wird.

Mitteilung: In Fortsetzung von Besprechungen auf der Tagung Deutscher Neurologen und Psychiater in Marburg 1948 trafen sich Ärzte, die an den Fragen der Hirnverletzten-Begutachtung und Betreuung besonders interessiert sind, in Pyrmont und schlossen sich zur: „Arbeitsgemeinschaft für Hirntraumaforschung innerhalb der in Gründung befindlichen Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater” zusammen. Die Anwesenden hielten es für geboten, im Hinblick auf die bevorstehende gesetzliche Neuordnung des Sozialversicherungs- und Fürsorgewesens, den maßgebenden Stellen der Länder die folgenden grundsätzlichen Auffassungen vorzutragen:

1. Die Sonderfürsorge für Hirnverletzte ist wegen der Eigenart der Verletzungsfolgen aufrechtzuerhalten.

2. Hirnverletzter ist, wer durch (mittelbare oder unmittelbare) äußere Gewalteinwirkung eine bleibende organische Schädigung des Gehirns erlitten hat.

3. Wer auf andere Weise als durch Verletzung eine bleibende organische Hirnschädigung erlitten hat, wird dem Hirnverletzten in fürsorgerischer Hinsicht gleichgestellt, wenn eine sozialmedizinisch entschädigungspflichtige Ursache besteht.

4. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit wird nach den Grundsätzen der Versicherungsmedizin festgesetzt.

5. Hirnverletzte sollen grundsätzlich nur durch Ärzte mit besonderer Erfahrung auf diesem Gebiet betreut und begutachtet werden. Für diesen Zweck ist die Einrichtung von Fachkrankenhäusern erforderlich.

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