Dtsch Med Wochenschr 1911; 37(44): 2028-2035
DOI: 10.1055/s-0028-1131060
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Nervöse und Psychische Störungen Nach Katastrophen

Unter besonderer Berücksichtigung der Eisenbahnkatastrophe von MüllheimEduard Stierlin - Assistenten der Chirurgischen Universitätsklinik Basel
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Publication Date:
22 June 2009 (online)

Zusammenfassung

Die Ueberlebenden von sechs Katastrophen (Valparaiso, Messina-Reggio, Courrières, Radbod, Müllheim, Brail) wurden an Ort und Stelle auf ihren geistigen und körperlichen Zustand untersucht. Der heftige Schreck, teils in Verbindung mit körperlichen und anderen seelischen Insulten, brachte eine Reihe psychischer und nervöser Störungen zustande.

1. Akute, in einigen Tagen ablaufende Schreckpsychosen vom Charakter hysterischer oder epileptischer Dämmerzustände, ferner solche von chronischem Verlauf, die an Erschöpfungspsychosen und Korssakow erinnerten.

2. Bei einer größeren Anzahl der Ueberlebenden wurde in der ersten Zeit nach der Katastrophe ein typischer, bisher nicht beschriebener nervöser, vorwiegend vasomotorischer Symptomenkomplex nachgewiesen mit folgenden Hauptsymptomen: Schlafstörungen, erhöhte Frequenz und Labilität des Pluses, Steigerung der Patellarreflexe; außerdem, doch weniger regelmäßig: Dermographie, starkes Schwitzen, Gefühl aufsteigender Hitze, kühle Extremitäten, Cephalalgie, Vertigo, Abulie, Tremor. Die Stimmung war in der Regel auffallend gut und ruhig, oft heiter. Es bestand nicht die psychopathische Konstitution des Traumatikers. Diese Störungen klangen meist restlos ab, bei einzelnen aber entwickelten sich daraus.

3. eigentliche Neurosen.

Bezüglich der Rassendisposition ist hervorzuheben, daß der Süditaliener zwar zu rasch ablaufenden akuten hysterischen Manifestationen disponiert scheint, daß aber schwere Neurosen in auffallend geringer Zahl und fast nur vom ersten Monat an beobachtet wurden. Der nordfranzösische Arbeiter erwies sich namentlich für hysterische Neurosenformen disponiert. Bei Deutschen der besser gestellten sozialen Klassen wurden vorwiegend neurasthenische Störungen beobachtet.

Eine für Katastrophen mehr oder weniger typische Neurosenform ist die Angstneurose (nicht im Sinne Freuds). Im Zentrum dieses Krankheitsbildes steht der Erinnerungsaffekt der Katastrophe.

Bis jetzt sind uns acht Fälle leichter und schwerster traumatischer Neurosen infolge der Müllheimer Eisnbahnkatastrophe bekannt: Zwei schwere und zwei leichtere, mehr neurasthenische Schreckneurosen (♂), zwei Angstneurosen (♂ ♀), wovon eine von ausgesprochen hysterischem Typus (♀), zwei leichtere Unfallsneurosen mit Präokkupation durch Entschädigungsangelegenheiten (♀). Einer von ihnen erlitt eine Commotio, ein zweiter scheint nur einige Momente bewußtlos gewesen zu sein.

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