Dtsch Med Wochenschr 1910; 36(33): 1526-1527
DOI: 10.1055/s-0028-1142988
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Ein Fall von rein sensibler Polyneuritis alcoholica

A. Pelz - Nervenarzt in Königsberg i. Pr.
Further Information

Publication History

Publication Date:
22 June 2009 (online)

Zusammenfassung

Bei einem seit einigen Jahren sehr reichlichem Alkoholgenuß ergebenen Manne, der vor etwa sechs Jahren eine Polyneuritis arsenicosa durchgemacht hatte, stellten sich im Verlaufe eines Vierteljahres allmählich zunehmend heftige Schmerzen in den Füßen und später auch in den Händen ein; dann Parästhesien und Empfindungslosigkeit. Vorübergehend besteht auch Gürtelgefühl. Ueber Lähmungserscheinungen wird nicht geklagt. Außerdem bestehen Beschwerden, wie Schlaflosigkeit, Reizbarkeit etc. mit dem Allgemeinbilde des chronischen Alkoholismus. Objektiv finden sich handschuh- bzw. strumpfförmige Störungen fast sämtlicher Sensibilitätsqualitäten an Händen und Füßen. Störungen der höheren Sinne, der Motilität (bis auf Nystagmus), der elektrischen Muskelerregbarkeit fehlen. Weiter besteht eine Areflexie einer Kniescheiben- und beider Achillessehnen und anfangs zuweilen etwas träge Pupillenreaktion. Leber- und Magengegend druckschmerzhaft.

Die Diagnose dieses Symptomenbildes, in dem einzig Störungen der Sensibilität und der Reflexerregbarkeit bestehen und motorische Störungen völlig fehlen, schwankte anfangs zwischen Polyneuritis alcoholica und Tabes dorsalis. In praxi wird wohl oft bei Polyneuritiden, besonders wenn sie eben im Entstehen sind, wenn reißende Schmerzen, Parästhesien und andere Sensibilitätsstörungen und dazu die oft sehr früh einsetzenden Areflexien im Bilde vorherrschen, die differentielle Diagnose der Tabes dorsalis erwogen werden müssen, aber rasch lehrt der Verlauf, das Ausbleiben von Blasenstörungen und besonders das Hervortreten der motorischen Erscheinungen, Atrophien und elektrische Störung, daß es sich um einen neuritischen Prozeß handelt. Aber gerade das war es ja, was in unserem Falle fehlte und was trotz aller sicheren Allgemeinerscheinungen eines schweren chronischen Alkoholismus immer wieder zur Tabes hinneigen ließ. Sprachen zwar einerseits dafür die oft reißenden Schmerzen, die Sensibilitätsstörungen, das Fehlen der Sehnenreflexe an den Beinen, die leichten Störungen der Pupillenreaktion, so ließ sich dagegen einwenden einmal, daß alle diese Symptome sich ohne weiteres auch durch die Polyneuritis alcoholica erklären ließen, — auch die Pupillenträgheit, die ja bei chronischem Alkoholismus nach den Untersuchungen von Uhthoff, Moeli etc. nichts Ungewöhnliches ist. — Sodann aber sprach entschieden gegen Tabes das völlige Fehlen von Sphinkterstörungen während des ganzen Verlaufes und von Ataxie, von Störungen der Tiefensensibilität, der Ausgang in fast völlige Heilung, bis auf den bleibenden Mangel der Sehnenreflexe[1]), und ganz besonders das — total negative — Ergebnis der Lumbalpunktion. Gerade dies gab schließlich den Ausschlag für die Diagnose einer ungewöhnlichen Form der Polyneuritis alcoholica.

Ist es aber schon keine echte Tabes, so liegt der Gedanke nahe an die Pseudotabes, wie sie bei chronischen Intoxikationen, z. B. bei Diabetes beschrieben ist. Entspricht unser Fall also dem Bilde der Pseudotabes alcoholica, oder wie Déjerine (1884) es nannte, „la Névro-tabes périphérique” ?

Bei diesen Fällen kommt es auch häufig vor, daß die motorischen Lähmungserscheinungen sehr zurücktreten. Aber dafür zeichnen sie sich alle durch ein Symptom aus, das sie eben der Tabes so ähnlich macht, durch die Ataxie, die so sehr das Bild beherrscht, daß Remak ausdrücklich statt des nicht sehr glücklichen eben erwähnten Namens die Bezeichnung „ataktische Polyneuritis” vorschlug. Aber in unserem Falle fehlen nicht nur die Lähmungserscheinungen. sondern auch die Ataxie fehlt völlig, sodaß er nicht in diese Gruppe rangiert werden kann.

In jüngster Zeit hat Nonne [2]) eine Art von kombinierter Systemerkrankung bei schwerem chronischen Alkoholismus beschrieben; in seinen Fällen fehlen, bis auf einen, zwar auch ausgesprochene Lähmungserscheinungen und elektrische Störungen. Aber allen war spinale Ataxie und zum Teil auch Symptome eigen, die, wie das Babinskische Zeichen, auf eine Mitbeteiligung der weißen Seitenstränge des Rückenmarks hinweisen. Auch davon fand sich in unserem Falle nichts. Vielmehr ist er einer der außerordentlich seltenen Fälle von rein sensibler Polyneuritis alcoholica. Diese Abgrenzung darf erst nach genauester aufmerksamer Untersuchung geschehen. Oft zeigt die elektrische Untersuchung auch dort noch, wo Lähmung und Atrophie nicht sicher feststellbar sind, beweisende Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit, etwa eine leichte Ea. R. So fand Oppenheim [3]) in einem Fall dieser Art bei genauer Untersuchung eine Schwäche des Extensor hallucis longus mit Ea. R., während es anfangs schien, als ob nur Areflexie und Gefühlsstörungen vorhanden seien. Auf Grund dieser Angabe Oppenheims habe ich meinen Kranken wiederholt und aufs genaueste elektrisch untersucht, ohne jedes Resultat. Aber auch innerhalb dieser seltenen Gruppe von rein sensibler Polyneuritis stellt unser Fall noch eine besondere Form dar, indem es sich bei ihm tatsächlich nur um „Gefühlsstörungen” handelt, während sonst in diesen wenigen „rein sensiblen” Fällen gerade die Ataxie besonders hervortritt.

Erhebt sich nun die Frage, warum hier die Einwirkung des Giftes auf das Nervensystem in so ungewöhnlicher elektiver Weise erfolgt ist!

Es gibt über diese Frage des verschiedenen Verhaltens des Nervensystems gegen äußere Einwirkungen, Traumen, Gifte etc., nur sehr allgemeine, etwas spekulative Anschauungen. Die klinischen Tatsachen sind etwa folgende: Eine bestimmte Schädlichkeit zeigt eine erhöhte Affinität zu den Trägern einer bestimmten funktionellen Qualität — der sensiblen oder häufiger der motorischen —, im allgemeinen ohne lokale Bevorzugung; oder bestimmte Organsysteme oder Zweiggebiete in dem Verbreitungsbezirk eines größeren Nerven zeichnen sich durch gesteigerte Vulnerabilität für allerlei Schädlichkeiten aus. So ist für letzteres bekannt die von Se mon gefundene Tatsache, daß im Gebiete des N. laryngeus inferior der Ast für den Glottisöffner (Abduktor) früher gelähmt wird als die anderen Aeste. Aehnlich werden im Gebiete des N. oculomotorius oft allein die Fasern, die den M. levator palpebrae versorgen, affiziert (Ptosis). Im Gebiete der großen Extremitätennerven zeigen die Nervenäste für die Streckmuskeln eine viel größere Neigung zu Lähmungen als die für die Beuger; sowohl die Aeste des Radialis am Arm als auch am Bein die Aeste des Peroneus. Das ist auch experimentell durch D. Gerhardt jun.[4]) bestätigt worden. Die Bevorzugung einzelner sensibler Aeste ist weit seltener; besonders bekannt geworden ist die von Bernhardt und Roth beschriebene isolierte Erkrankung des N. cutaneus femoris lateralis (Meralgia paraesthetica).

Für die ersterwähnte Form der Elektivität, der besonderen Affinität für eine funktionelle Qualität, gilt die Tatsache, daß Alkohol, Arsen etc. weit mehr motorische Ausfallserscheinungen verursachen als sensible. Man hat als Grund dafür eine allgemeine größere Widerstandsfähigkeit der sensiblen Fasern vermutet. Und es wurde von Lüderitz (zitiert nach Cassirer) experimentell festgestellt, daß bei allmählicher Druckwirkung die Leitungsunterbrechung für die motonisehen Fasern früher eintritt als für die sensiblen. Viel ist damit nicht gewonnen, nicht viel mehr als eine Umschreibung der klinischen Tatsachen. Aber immerhin wird gerade durch diese Kenntnisse besonders deutlich, wie sehr unser Fall der Norm widerspricht.

Es ließe sich auch an eine gewisse funktionelle Abnutzung denken, etwa im Sinne der Edingerschen Aufbrauchstheonie, wie Moeli für den N. peroneus nachgewiesen hat, daß er beim Gehen eine große Rolle spiele, sodaß er vor anderen Gebieten funktionell überanstrengt werde und darum eine Prädilektionsstelle, eine Art locus minoris resistentiae bilde. Allein dann wäre für unseren Kranken zu bedenken, daß er vor sechs Jahren eine Polyneuritis arsenicosa mit schweren Lähmungserscheinungen durchgemacht und daß man danach jetzt eigentlich erst recht nicht eine rein sensible, sondern eine motorische Störung erwarten müßte.

Im Sinne der zweiten Form der Elektivität könnte man annehmen, daß vielleicht nur die alleräußersten Hautverzweigungen der Nervenfasern vom Krankheitsprozeß getroffen seien. Wofür einmal die rein peripherische Ausbreitung der Sensibilitätslähmung, sodann ihre totale, alle Qualitäten umfassende Art sprechen könnte. Daß die Tiefensensibilität in unserem Falle frei war, spräche nicht dagegen; denn nach Head wird diese ja durch Fasern vermittelt, die nicht mit den Hautnerven, sondern mit den Muskelästen verlaufen — was anderseits bei unserem Kranken wieder ein Beweis wäre für das völlige Freibleiben der motorischen Nerven. Dagegen könnte nur das Fehlen der Sehnenreflexe, insbesondere der Achillessehnenphiinomene, sprechen, das doch bei dem völligen Mangel der Ausfallserscheinungen nur durch Schädigung des sensiblen Teils des Reflexbogens, d. h. durch eine Mitbeteiligung des N. cruralis erklärt werden kann. Das bedeutete aber eine allgemeine Ausbreitung des neuritischen Prozesses. Ist also auch diese Annahme durchaus nicht ausreichend, so wird man doch zur Erklärung der Mannigfaltigkeit der klinischen Bilder gleicher Aetiologie nicht nur funktionelle Dispositionen, sondern auch solche örtlichen Verschiedenheiten des Prozesses heranziehen müssen.

1 1) Die Sehnenphänomene können auch nach völliger Wiederherstellung der Funktion noch sehr lange, selbst jahrelang, fehlen, um schließlich doch noch wieder zum Vorschein zu kommen (Cassirer).

2 2) Monatsschrift für Psychiatrie, Bd. 18.

3 3) Lehrbuch Bd. V, S. 591.

4 4) Archiv für Psychiatrie, Bd. 27, H. 3.

1 1) Die Sehnenphänomene können auch nach völliger Wiederherstellung der Funktion noch sehr lange, selbst jahrelang, fehlen, um schließlich doch noch wieder zum Vorschein zu kommen (Cassirer).

2 2) Monatsschrift für Psychiatrie, Bd. 18.

3 3) Lehrbuch Bd. V, S. 591.

4 4) Archiv für Psychiatrie, Bd. 27, H. 3.

    >