veterinär spiegel 2009; 19(02): 57
DOI: 10.1055/s-0029-1185757
editorial
Enke Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Liebe Kollegin, lieber Kollege

Thomas Steidl
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Publication Date:
29 June 2009 (online)

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„Primum nihil nocere“ – diese uralte Aufforderung ärztlichen wie auch tierärztlichen Handelns stellt uns Tag für Tag vor die Aufgabe, von unseren Patienten Schaden und Schmerzen abzuwenden.

Über die rein ethisch-moralische Forderung, die eigentlich schon zwingend genug sein sollte, hinaus verfügen wir in Deutschland, wie in den meisten anderen Staaten der nordwestlichen Hemisphäre, über ein Tierschutzgesetz, das gemeinsam mit den in ihm implizierten Verordnungen ganz klar zum Ausdruck bringt, wer wann und wie gegen geltendes Recht verstößt und sich strafbar macht, wenn er die Forderung des „nil nocere“ missachtet. Auch das Tierschutzgesetz fordert in allererster Linie, Schmerzen und Leiden nicht zuzulassen.

Nun mag es sein, dass in Teilbereichen mit dem Patient Tier zumindest früher und teilweise auch heute immer noch ein wenig „hemdsärmelig“ umgegangen wird. Ich meine damit nicht einmal die Kastration männlicher Tiere, die seit Tausenden von Jahren selbstverständlich ohne Narkose durchgeführt wurde (weil früher einfach keine geeigneten Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung standen!) und erst in unseren Tagen zum Glück diskutiert und infrage gestellt wird, wobei sich diese Diskussion mittlerweile auch von wirtschaftlichen und marktorientierten Überlegungen zu lösen beginnt. Ich denke vielmehr an die Überlegungen, die bei manchen Diskussionen laut werden, dass sich unsere Patienten nach einer Operation doch viel „vernünftiger“ verhalten und den Operationserfolg weniger gefährden, wenn sie nicht so schmerzfrei wie möglich sind, sondern „merken, dass es wehtut, wenn sie sich zuviel bewegen“. Ich habe diesen Denkansatz schon immer als ausgesprochen zynisch empfunden. Viele unserer Patienten erhalten perioperativ Antibiotika, weil es unserem Selbstverständnis von guter Arbeit entspricht und weil wir bei unseren dicht behaarten und naturnah lebenden Patienten einfach kein Operationsrisiko eingehen wollen. Die perioperative Anästhesie hat jedoch immer noch nicht den selbstverständlichen Stellenwert, den sie haben sollte.

Postoperative Schmerzen rufen nicht nur Leiden hervor, sondern haben eine Reihe von pathophysiologischen Konsequenzen, die uns häufig gar nicht so präsent sind: Da nahezu jedes Organsystem durch Schmerzen in Mitleidenschaft gezogen werden kann, sind Schmerzen mögliche Ursachen für die Dysfunktion oder den Ausfall so lebenswichtiger Organe wie Atmung, Herzkreislauf oder Leber. Das Immunsystem kann durch Schmerzen so massiv supprimiert werden, dass postoperative Infektionen unsere Patienten bedrohen, wenn sie nicht schmerzfrei sind. Schmerzen bringen den Patienten in eine katabole Stoffwechselsituation, was sich nicht zuletzt auch in einer verzögerten oder mangelhaften Wundheilung äußert.

Nun werden immer wieder Studien zitiert, in denen Stresshormone und andere Stoffwechselparameter gemessen werden, aus denen konkludiert wird, ob das Tier in der untersuchten Situation Schmerzen hat oder nicht. In manchen Fällen wird hier akademischer Sand in die Augen der Leser gestreut und damit der Blick auf den Fakt verschleiert, dass Tiere in vergleichbaren Situationen selbstredend vergleichbare Schmerzen empfinden wie wir. Diese selbstverständliche Analogieregel kennt der Volksmund auch ohne Cortisolbestimmung, indem er sagt „quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie Du den Schmerz!“

Die Vielfalt an neuen Präparaten und Konzepten für die Schmerzbekämpfung führt jedoch auch dazu, dass nicht mehr nur ein einziges Präparat den Goldstandard in der Analgesie darstellt, sondern dass Tierärztinnen und Tierärzte in Praxis und Klinik lernen müssen, wie in unterschiedlichen Indikationen verschiedene Medikamente miteinander kombiniert werden müssen, damit wir unsere Patienten so schmerzfrei wie möglich behandeln können.

Man kann diese Behandlungsregime Kochrezepte, Empfehlungen oder Leitlinien nennen. Die Bezeichnung, der Name ist sekundär. Wichtig ist allein der medizinische Benefit für unsere Kolleginnen und Kollegen wie auch für unsere Patienten.

Leitlinien haben jedoch trotz kontroverser Diskussion an folgenden 2 Punkten eine besondere Bedeutung und Funktion: Zum einen sind Leitlinien überall dort wichtig, wo es darum geht, unsere Kolleginnen und Kollegen, die in guter Absicht handeln, vor Schadensersatzansprüchen bei Gericht zu bewahren – was seit einigen Jahren nicht mehr nur eine Domäne der Pferdemedizin ist, sondern immer mehr auch bei der Behandlung von Hunden, Katzen und Heimtieren Ärger und wirtschaftliche Schäden bei den involvierten Praktikern verursacht. Werden diese Leitlinien vernünftig und mit Augenmaß zur täglichen Praxis erstellt, sind sie ausschließlich hilfreich. Befürchtungen, dass diese Leitlinien dazu dienen könnten, Praktiker zu Schadenersatz zu verurteilen, sind naiv. Jeder Richter, der derartige Fälle zu entscheiden hat, weiß auch ohne Leitlinien mithilfe seiner Gutachter ganz genau, was im Jahre 2009 von einem durchschnittlichen Praktiker erwartet werden kann, der sorgfältig und auf dem aktuellen Stand der Tiermedizin behandelt.

Das zweite Feld, auf dem Empfehlungen oder Leitlinien einen Sinn haben, besteht dort, wo es darum geht, unseren Patienten neuere Erkenntnisse zugute kommen zu lassen, die den meisten von uns aufgrund ihrer Aktualität von Universität und Hochschule noch nicht vermittelt werden konnten. Wer von uns könnte sich dagegen sträuben, neue Erkenntnisse der Wissenschaft in didaktisch wohl portionierten und vorverdauten Empfehlungen lesen zu können, wenn es darum geht, unsere Patienten sicher und effektiv schmerzfrei zu behandeln?

Leitlinien, in die Erkenntnisse aus Praxis und Universität einfließen, sind hilfreich sowohl für die Kollegenschaft wie auch für unsere Patienten. Ein freier Beruf impliziert nicht, dass ich mit meinen Patienten alles anstellen kann, was ich gewohnt bin zu tun oder was mir vor vielen Jahren auf der Universität als das „Gelbe vom Ei“ vermittelt wurde. Freier Beruf impliziert auch die Verpflichtung zur Fortbildung, um stets im Interesse der Patienten auf der Höhe der medizinischen Erkenntnis zu arbeiten. Praxisbezogene Leitlinien sind hierbei neben Fortbildungsveranstaltungen und dem Studium von Textbüchern und der aktuellen Fachliteratur ein weiteres wichtiges Instrument.

Mit freundlichen Grüßen