Sprache · Stimme · Gehör 2009; 33(2): 57
DOI: 10.1055/s-0029-1220901
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Grammatik und grammatische Beschreibung

Grammar and Grammatic DescriptionG. Diewald
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Publication Date:
05 June 2009 (online)

Der Begriff „Grammatik” ist, wie viele sprachwissenschaftliche Termini, die aus der Allgemeinsprache entnommen sind, schillernd und mehrdeutig. Es lohnt sich daher, kurz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit das Feld der Bedeutungen abzustecken, so, wie es für den hier verfolgten Zweck sinnvoll ist.

Zum einen ist Grammatik das System an sprachlichem Wissen, das die Sprecher einer Sprache zu deren regelhaftem Gebrauch befähigt. Dieses unbewusste, im Lauf des Spracherwerbs konstituierte Wissen bezieht sich auf eine bestimmte Einzelsprache. In der Frage, was alles in den Bereich der so verstandenen grammatischen Regeln gehört, gibt es eine weitere und eine engere Auffassung. In der weiter gefassten Interpretation gehören zur Grammatik nicht nur die Strukturregeln des Satzbaus, sondern die Regeln aller sprachlichen Strukturebenen, z. B. auch die der phonologischen Organisation. Die enger gefasste Interpretation, die auch diesem Heft zugrunde liegt, fasst unter Grammatik im Wesentlichen die Strukturregeln des Satzbaus und Wortformenbaus.

Die zweite, weithin bekannte Bedeutung des Begriffs „Grammatik” ist die eines verbindlichen Regelwerks, das dokumentiert, welche grammatischen Formen, Konstruktionen und Regeln in einer bestimmten Sprache vorkommen. Die Grammatik im Sinne dieser „kodifizierten Norm” –– ist eine Abstraktion und Idealisierung des tatsächlichen Gebrauchs. Dabei geht es der Sprachwissenschaft darum, den gemeinsamen Kernbestand der existierenden sprachlichen Strukturen und Regeln darzustellen und nicht darum, den Sprachbenutzern vorzuschreiben, welche Regeln sie anwenden sollen oder welche Formen sie gebrauchen dürfen. Moderne, auf linguistischen Erkenntnissen basierende Grammatiken sind deskriptiv und nicht präskriptiv. Dabei gibt es eine große Spanne von Darbietungsformen, die von umfassenden wissenschaftlichen Grammatiken [1] über Lernergrammatiken für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache [2] zu erklärenden Grammatiken [3] bis hin zu alltagspraktisch orientierten Referenzgrammatiken für Beruf und Studium reicht [4] [5].

In der dritten Bedeutungsvariante, die hier benannt werden soll, steht der Terminus „Grammatik” für die verschiedenen linguistischen Theoriebildungen über die Strukturen und Regelmechanismen der Sprache. Die intensive linguistische Forschung der letzten Jahrzehnte hat zur Bildung einer Reihe von Schulen geführt, die unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand haben und auch an unterschiedlichen Fragestellungen interessiert sind.

Ungeachtet dieses Theorienpluralismus gilt für jede anwendungsorientierte Umsetzung grammatischer Beschreibung und Theoriebildung die Unterstellung, dass es einen theorieneutralen Kern an deskriptivem Wissen über die Grammatik gibt und dass dieser Kern die Basis weiterer theoretischer Differenzierungen darstellt.

Die fünf Beiträge dieses Heftes bieten in kohärenter, leicht zugänglicher Form grammatisches Grundlagenwissen zum Deutschen und einen Überblick über zentrale Modelle syntaktischer Beschreibung und Theoriebildung.

Der Beitrag „Grundbegriffe und Grundlagen der grammatischen Beschreibung” von Karin Pittner gibt einen Überblick über zentrale Grundbegriffe zur Beschreibung der grammatischen Strukturen.

Petra Vogel und Rolf Thieroff befassen sich in ihrem Beitrag „Wortarten und grammatische Kategorien” mit den Grundbausteinen der Syntax: mit Wörtern und grammatischen Morphemen, die die syntaktische Passfähigkeit der Wörter bestimmen.

Im Beitrag „Syntaktische Funktionen und Kasusrollen” von Hans-Werner Eroms stehen die kommunikative Leistung des Satzes und die Funktionen einzelner Satzglieder bei der Erfüllung dieser Leistung im Mittelpunkt.

Mechthild Habermann widmet sich mit ihrem Beitrag „Satzarten, einfache und komplexe Sätze, Topologie” dem strukturellen Satzaufbau, der Bildung komplexer Sätze und deren hierarchischer Gliederung.

Den Abschluss bildet der Beitrag von Christa Dürscheid, der mit dem Thema „Grammatische Theorien” über die rein deskriptive Ebene hinausgeht und in Grundzügen verschiedene gängige Theoriemodelle skizziert.

Literatur

  • 1 Zifonun G, Hoffmann L, Strecker B. et al .Grammatik der deutschen Sprache, 3 Bde. Berlin, New York: de Gruyter 1997
  • 2 Helbig G, Buscha J. Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Berlin: Langenscheidt 2005
  • 3 Eisenberg P. Grundriss der deutschen Grammatik. Band 1: Das Wort. Band 2: Der Satz. Stuttgart: Metzler 1998, 1999
  • 4 Fabricius-Hansen C, Gallmann P, Eisenberg P. Der Duden in 12 Bänden. Das Standardwerk zur deutschen Sprache: Duden 04. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 2006 überarbeiteter Neudruck der 7. Auflage. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag 2006
  • 5 Diewald G, Habermann M, Thurmair M. Duden – Fit für das Bachelorstudium: Grundwissen Grammatik für Sprachstudiengänge. Mannheim: Bibliografisches Institut 2009

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. G. Diewald

Leibniz Universität Hannover

Deutsches Seminar

Germanistische und Angewandte Linguistik

Königsworther Platz 1

30167 Hannover

Email: Gabriele.Diewald@germanistik.uni-hannover.de

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