PiD - Psychotherapie im Dialog 2009; 10(4): 289-290
DOI: 10.1055/s-0029-1223381
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Patientenautonomie – Papiertiger oder schlafender Riese?

Wolfgang  Loth, Henning  Schauenburg
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Publication Date:
20 November 2009 (online)

Zugegeben, die Frage klingt etwas überdreht, aber vielleicht lässt sich das Irritierende und Herausfordernde an dem zunächst so nüchtern und fachlich selbstverständlich klingenden Begriff Patientenautonomie durch Überzeichnung am besten fassen.

In unserer intensiven Diskussion zur Vorbereitung auf dieses Themenheft, beim Sichten des Materials, beim Reflektieren der expliziten und impliziten Konnotationen dieses Begriffes, vor allem beim Übersetzen in praktische Alltagsfragen gab es immer wieder Momente, in denen der Begriff zu schillern begann und sich wie ein Chamäleon in seiner jeweiligen Umgebung verbarg, sich dem Verstehenszugang, der schlüssigen Einordnung entzog.

Was passierte in solchen Augenblicken? Einerseits erscheint es selbstredend, dass im Grunde nichts „geht” ohne Berücksichtigung der Autonomie von PatientInnen / KlientInnen oder Anfragenden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man Psychotherapie als ein nichttriviales Geschehen begreift, in dem sich Ergebnisse nicht einseitig steuern lassen, sondern „sich ergeben”, unter der Voraussetzung einer ausreichend großen Passung der Vorstellungen von Hilfesuchenden und Hilfeanbietenden, um einmal diese umfassende Formulierung zu gebrauchen. Hier ist Autonomie wie ein „schlafender Riese”, der, wenn er aufwacht, sich als „Souverän” erweist, und der uns als TherapeutInnen herausfordert, unsere Legitimation und unsere Fähigkeit zu belegen, allgemeines fachliches Können mit den individuellen Eigenheiten des je besonderen Falles zusammenzubringen.

Andererseits bekamen wir das Gefühl, die Autonomie von PatientInnen könne sich auch zum Papiertiger wandeln. Dann geht es nicht mehr um Selbstbestimmung, sondern um „autonome” Ansprüche, die eingeklagt werden können, straf- und zivilrechtliche Belange berühren. Die Grenzen zwischen Autonomie als Conditio sine qua non und Autonomie als Rechtfertigungsthema und Rechtstitel können so verschwimmen. Hier eröffnen sich dann auch Ausblicke auf die Frage, wie es mit der Autonomie der „Anbieter”, d. h. der TherapeutInnen bestellt ist.

Und so stiegen wir weiter ein in unser Thema, nur um noch mehr schwankenden Boden zu finden.

Muss man nicht unterscheiden zwischen Autonomie als Zuschreibung für ein Subjekt und Autonomie als nicht einseitig steuerbare Eigenschaft von Systemprozessen, was man so lax „Eigendynamik” nennt? Oder: Im Falle der Subjektzuschreibung und der Annahme, dass sich in therapeutischen Kontakten zwei „autonome” Menschen gegenüberstehen: Bis zu welchem Grad an Asymmetrie kann noch von Autonomie auf beiden Seiten gesprochen werden? Wird Autonomie nur dann akzeptiert, wenn sie sich in Form von Compliance zeigt? Wenn PatientInnen eine Lösung favorisieren, die andere belastet, welche Autonomie wird den davon Belasteten zugeschrieben?

Welche Konsequenzen hätte es, mit Patientenautonomie in erster Linie eine ethische Position zu kennzeichnen, die konsequent die „Selbstgesetzlichkeit” eines hilfesuchenden Menschen anerkennt? Welche Konsequenzen hätte es andererseits, diese Selbstgesetzlichkeit als relativ zu sehen, eingeschränkt durch eine Vielzahl von Faktoren, nicht zuletzt durch krankheitsbedingte Begrenzungen?

Oder was ist mit Patientenautonomie als eine pragmatische Haltung, die anerkennt, dass ohne Rücksicht auf die Eigengesetzlichkeit von Hilfesuchenden nichts bewirkt werden kann? Und wie könnte dann unterschieden werden (und zu welchem Zweck) zwischen Klienten- / Patientenfokussierung als Königsweg zur gelingenden Kommunikation und andererseits Autonomie als Zielgröße der Beeinflussung von Hilfesuchenden? Und welche Rolle spielt dabei die Finanzierbarkeit eines sogenannten Gesundheitssystems?

Viele Fragen … Die Bandbreite des Themas entzieht sich allen Wünschen nach einfachen Verhältnissen. Sie reicht inhaltlich von der Termingestaltung über Hausaufgaben- / Medikamenten-(Non)Compliance bis zur Frage der Sterbehilfe. Beziehungstheoretisch (und -praktisch) fordert sie das Klären eigener Standpunkte: Lasse ich mich von fürsorgenden Vorstellungen leiten (auch wenn sie als paternalistisch infrage gestellt werden können) oder lasse ich mich leiten von Ideen über Helfen als Aushandeln von Kundschaftsbeziehungen (auch wenn sie als idealistisch infrage gestellt werden können) oder wie finde ich (m)einen Weg dazwischen? Konzeptuell belässt sie einen ebenfalls nicht im Beliebigen. Was ich als Nachweis professioneller Kompetenz betrachte, hat Folgen: ob ich nun davon ausgehe, dass Hilfen implantiert werden müssten, oder davon ausgehe, dass Helfen im Würdigen und Fördern systemeigener Ressourcen besteht (und woran ich mich dann orientiere bei der Frage, wem das wie nutzt).

Wie erfreulich war es da zu entdecken, dass sich im Laufe der Zeit eine Anzahl von Kolleginnen und Kollegen mit solchen elementaren Fragen unseres therapeutischen Alltags, sei es auf konzeptueller, sei es auf ganz pragmatischer Ebene, beschäftigt haben. Viele von ihnen konnten wir zur Mitarbeit an diesem Heft bewegen.

Der konzeptuelle Entwurf von W. Tress und N. Erny eröffnet das Feld mit einer Diskussion des „Rechtes auf Autonomieverlust” in der Therapie. A. Fintz geht in ihrem Beitrag vom „Paradox der Autonomie” aus und illustriert ihre Überlegungen anhand eines Fallbeispiels. G. Schiepek unterscheidet zwischen subjektiver Autonomie und der Eigengesetzlichkeit von Systemen, im vorliegenden Fall in Form therapeutischer Prozesse, deren Messbarkeit er seit Jahren beforscht. Es folgen, entsprechend unserer Gewohnheit und Sitte Stellungnahmen aus unterschiedlichen Schulen zum Thema, die je auf eigene Weise Facetten unseres Themas auffächern (M. Klemann, J. Wiltschko, J. Hargens, P. Kaimer). Wie relevant unser Begriff für den Alltag ist, wird an so unterschiedlichen Aspekten deutlich wie der Empathie als Voraussetzung für autonome Entscheidungen bei Schmerzpatienten (N. Biller-Andorno und A. Jakovljevic), am Umgang mit belastenden Eltern-Kind-Konstellationen (C. Tsirigotis) oder an der Haltung, die wir als Therapeuten zur Empowerment-Bewegung (A. Lenz) und zu Selbsthilfegruppen (J. Matzat) einnehmen. Was „Shared-Decision-Making” ist und inwieweit die dazu entstandene Diskussion nicht nur die somatische Medizin, sondern auch die Psychotherapie betrifft, diskutiert W. Eich. Aus der Arbeit von Patientenbeschwerdestellen berichten D. Munz und Kollegen. Ein besonderes Detail der Bedeutung von Autonomie im Arbeitsalltag stellt die Einsicht in Unterlagen dar, worüber M. Gossmann seine Überlegungen und Erkenntnisse beisteuert. C. Eichenberg ist in bewährter Weise für die neuen Medien zuständig, die hier ja eine besondere Rolle spielen in ihrer unmittelbar erscheinenden Verfügbarkeit für Hilfesuchende.

Lassen Sie sich also einladen zu einem Thema unserer Profession, das bereits durch seinen Namen andeutet, dass sein Erschließen und Wirken nicht in unserer Hand alleine liegt.

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