Sprache · Stimme · Gehör 2009; 33(2): 98
DOI: 10.1055/s-0029-1225586
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Wie viel Linguistik benötigen Logopädinnen und Sprachtherapeutinnen für ihren Beruf?

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Publication Date:
16 June 2009 (online)

? Frau Schrey-Dern, Sie verfügen über eine langjährige Lehrerfahrung in unterschiedlichen Ausbildungsgängen für Logopäden. Welche Rolle sollte aus Ihrer Sicht die Linguistik in der Logopädenausbildung haben?

Die angewandte Linguistik ist ein ganz wesentlicher inhaltlicher Baustein der beruflichen Tätigkeit von Logopäden. Wie soll ein Studierender ohne sprachanalytische Fähigkeiten die gesprochene Sprache der Patienten differenzialdiagnostisch abgrenzen oder die Anwendung eines Verfahrens wie der patholinguistischen Diagnostik sinnvoll durchführen und auswerten, wenn er nicht in der Lage ist, die unterschiedlichen linguistischen Ebenen voneinander abzugrenzen und im Detail linguistische Strukturen zu analysieren. Dies lässt sich meines Erachtens nur dann erreichen, wenn die berufliche Grundausbildung von Logopäden ein profundes Wissen in allen Bereichen der Linguistik vermittelt.

? Es wird immer wieder geäußert, dass die linguistische Ausbildung nur eine untergeordnete Rolle für die therapeutische Praxis hätte. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen als Spezialistin für kindliche Sprachstörungen?

Nach meiner Auffassung spiegelt sich hier ein Berufsbild wieder, das mit dem internationalen Selbstverständnis der Berufsgruppe nicht in Einklang zu bringen ist. Logopäden sind die Experten für Kommunikation, da ist Wissen über Sprache, Sprechen und Stimme gefragt. Die linguistische Kompetenz ist eine der Kernkompetenzen logopädischer Arbeit, sie dokumentiert einen ganz wesentlichen Teil therapeutischer Praxis, gerade auch im Bereich Kindersprache. Eine Sprachentwicklungsstörung zeichnet sich dadurch aus, dass sie hochkomplex ist und sich das Kind in der Entwicklung befindet, d.h. neben der sprachlichen Kompetenz muss ich als Therapeutin auch immer den Verlauf der kindlichen Entwicklung berücksichtigen, d.h. ich benötige sehr viel psycholinguistisches Grundwissen, um hier fachkompetent arbeiten zu können.

? Der Zeitstress in der logopädischen Alltagspraxis ist enorm, deshalb argumentieren viele, eine ausführliche linguistische Diagnostik der Sprachfähigkeiten sei nicht umsetzbar. Was ist aus Ihrer Sicht die Minimalanforderung, um störungsspezifisch Sprachstörungen behandeln zu können?

Die Durchführung einer Spontanspracheanalyse wird immer mit dem Faktor "zuviel Zeitaufwand" abgelehnt. Meines Erachtens verbirgt sich dahinter zweierlei, einerseits trauen sich viele Kollegen und Kolleginnen diese Analyse nicht zu, weil sie in ihrer Grundausbildung nur unzureichend ausgebildet wurden. Andererseits ist die Analyse von Spontansprache zu Beginn immer etwas zeitaufwändig, d.h. erst im Laufe der Zeit mit entsprechender Routine wird der zeitliche Umfang geringer. Eine störungsspezifische Intervention setzt eine störungsbildspezifische Diagnostik voraus, die kann im Falle von Sprachstörungen nur darin bestehen, das für die einzelnen linguistischen Ebenen, d.h. Phonologie, Lexikon, Morphologie und Syntax entweder mit Hilfe eines Spontanspracheprofils und/oder Test-/Screeningverfahren ein umfassender Befund erhoben wird, aus dem die Schwerpunkte der Störung hervorgehen und sich Therapieziele ableiten lassen.

? Welche linguistischen Basiskenntnisse sollten im Bereich "Syntax und Morphologie" vorausgesetzt werden, um "Dysgrammatismus" erkennen und behandeln zu können?

Zunächst einmal müssen Studierende die psycholinguistischen Grundlagen der Grammatikentwicklung kennen und die in diesem Zusammenhang auftretenden Abweichungen, die Teil des Entwicklungsprozesses sind. Darüber hinaus sollten sie dazu in der Lage sein, die morphologischen Strukturen nach Flexionsmerkmalen zu beschreiben, eine Morphemanalyse durchzuführen, aus der hervorgeht, über welche Kompetenzen im Bereich der Wortbildung, d.h. Komposition oder Derivation, das Kind verfügt. Auf syntaktischer Ebene sollten die Wortordnung sowie die Satzarten näher bestimmt werden können. Das Ergebnis sollte dann mit Bezug zur normalen Entwicklung ausgewertet werden.

? Sollten auch Unterschiede in der Grammatik der gesprochenen versus geschriebenen Sprache in der grundständischen Ausbildung von logopädischen/sprachtherapeutischen Berufen vermittelt werden?

Die Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache ist ein wesentliches Merkmal sprachanalytischer Kompetenz. Den Studierenden muss bewusst gemacht werden, dass die Anforderungen, die z.B. die Duden-Grammatik stellt, auf der Grammatik geschriebener Sprache basieren und sich die Grammatik gesprochener Sprache davon z.T. sehr deutlich unterscheidet. Der Sprachgebrauch, mit dem wir Logopäden uns im Alltag beschäftigen, ist einem ständigen Wandel unterworfen. Ist mir dieser Sachverhalt als Therapeutin nicht bewusst, lege ich unangemessene Anforderungen an die sprachliche Kompetenz der Patienten und mache fachlich unzulässige Störungsbildzuschreibungen. Im Klartext: Die Unwissenheit über den Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass überflüssigerweise Interventionen durchgeführt werden.

Das Interview führte Dr. phil. Luise Springer, Aachen.

Zur Person

Dietlinde Schrey-Dern

Lehrlogopädin an der Lehranstalt für Logopädie am Universitätsklinikum Aachen (1987–2007); Lehrbeauftragte im Studiengang Lehr- und Forschungslogopädie, RWTH Aachen; Leitung des Referats "Sprachförderung" beim Deutschen Bundesverband für Logopädie.

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