Gesundheitswesen 2010; 72(10): 729-738
DOI: 10.1055/s-0029-1239566
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mitgliedergewinnung und -aktivierung in Selbsthilfeorganisationen

Ergebnisse einer Befragung von Selbsthilfeorganisationen auf BundesebeneRecruitment and Activation of Members in Self-Help OrganisationsResults of a Survey of Self-Help Organisations at the National LevelC. Kofahl1 , E. Mnich1 , P. Staszczukova1 , J. Hollmann1 , A. Trojan1 , S. Kohler1
  • 1Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Institut für Medizin-Soziologie
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Publication Date:
04 November 2009 (online)

Zusammenfassung

Ein Großteil der Bevölkerung kann sich vorstellen, im Falle eigener Betroffenheit einer Selbsthilfegruppe oder Selbsthilfeorganisation (SHO) beizutreten. Tatsächlich schließt sich aber nur ein vergleichweise geringer Anteil Betroffener Selbsthilfezusammenschlüssen an. Für Selbsthilfezusammenschlüsse ist die Anzahl der Mitglieder jedoch von entscheidender Bedeutung für ihre Selbstorganisation, Lobbyarbeit und (politische) Einflussnahme. Viele von ihnen sind jedoch mit ihrer Mitgliederentwicklung nicht zufrieden und suchen deshalb nach Möglichkeiten der Mitgliedergewinnung und -aktivierung. Im Rahmen des Projekts „Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen” (gefördert vom BKK Bundesverband 10/2006-04/2009) sollten in enger Kooperation von Wissenschaft und Praxis neue Strategien und Maßnahmen entwickelt werden, um die Zugänge von Menschen zur Selbsthilfe zu verbessern. In diesem Rahmen wurde in Kooperation mit Repräsentanten von Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene, der BAG SELBSTHILFE und der NAKOS zwischen September und Dezember 2007 eine Befragung von gesundheitsbezogenen Selbsthilfeorganisationen zum Thema „Mitgliedergewinnung und -aktivierung” durchgeführt. Von den 322 angeschriebenen Vorständen bzw. Geschäftsstellen beteiligten sich knapp 50%. Im August 2008 wurden auf einem abschließenden Transfer-Workshop mit über 60 Vertreterinnen und Vertretern von Selbsthilfeorganisationen die Ergebnisse diskutiert und deren Interpretation in diesen Beitrag integriert. Entgegen der vielbeklagten Stagnation oder Abnahme der Mitgliederzahlen sind die meisten Organisationen in den letzten Jahren eher gewachsen. Auch stellte sich heraus, dass die Mehrheit der Vereine erst nach 1990 gegründet wurde, insbesondere in den Bereichen seltene und chronische Erkrankungen. Hierzu haben wesentlich die stärkere gesundheitspolitische Anerkennung mit den Möglichkeiten der Selbsthilfeförderung sowie die technischen Erleichterungen in der Kommunikation beigetragen. Die für Selbsthilfezusammenschlüsse wichtige Kooperation mit Sozial- und Gesundheitsdiensten wird sehr kontrovers diskutiert. Trotz einer sich in den letzten Jahren verbesserten Situation halten sich positive und negative Erfahrungen eher die Waage. Bemerkenswert ist die große Offenheit und Bereitschaft zur Selbstreflexion der SHO-Repräsentanten. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Patientenorientierung im Gesundheitswesen wird die Bedeutung solch partizipativer Entwicklungs- und Forschungskooperationen weiter steigen.

Abstract

The majority of the German population can envisage a membership in self-help groups or organisations when this should become relevant. As a matter of fact, only relatively few people are attending joint self-help activities. However, a significant number of members is important for self-help organisations (SHO) for self-organisation, lobbyism and (political) influence. Many SHOs in Germany are dissatisfied with their membership development and are therefore looking for better recruitment and activation strategies. The project “Activating Potentials for Joint Self-help Activities” (funded by the statutory health insurance fund BKK BV 10/2006-04/2009) is a participative collaboration between scientists, practitioners and SHO representatives to develop strategies and methods to promote access to joint self-help activities. In co-operation with the BAG SELBSTHILFE (a National HCPO Alliance) and the NAKOS (the National Clearing House for the Encouragement and Support of Self-Help Groups) 322 boards of national level SHOs were contacted in late 2007 and asked to complete a questionnaire on membership development, recruitment strategies and measures to activate members for voluntary commitment. 50% returned the questionnaire. The results were fed back in a transfer workshop in August 2008 and discussed with 60 representatives of SHOs. Their views are integrated in this paper. Despite all claimed stagnation or decline in membership development, the results show stability or increases over the last two years. Furthermore, the majority of SHOs was founded from the 1990 s until today, specifically in the areas of rare and chronic diseases. This development is based on a better socio-political recognition and promotion of self-help activities, self-help groups and SHOs as well as in better communication technologies. The views on the co-operation between SHOs and social service and health care providers are controversial: Positive and negative experience is more or less balanced. Then the openness and self-reflection of the workshop and survey participants is remarkable. In the context of a growing patient orientation in the health-care system participative co-operation in research and development will become more meaningful.

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1 Bei den Prozent-Angaben handelt es sich um die kategorialen Mittelwerte der individuellen Prozentangaben. Aus diesem Grunde weicht die Summe rundungsbedingt geringfügig von 100% ab.

2 SGB V § 135a Verpflichtung zur Qualitätssicherung (Bundesministerium der Justiz: http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__135a.html (Stand: 9.02.2009)
(1) Die Leistungserbringer sind zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der von ihnen erbrachten Leistungen verpflichtet. Die Leistungen müssen dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und in der fachlich gebotenen Qualität erbracht werden.
(2) Vertragsärzte, medizinische Versorgungszentren, zugelassene Krankenhäuser, Erbringer von Vorsorgeleistungen oder Rehabilitationsmaßnahmen und Einrichtungen, mit denen ein Versorgungsvertrag nach § 111a besteht, sind nach Maßgabe der §§ 137 und 137d verpflichtet,
1. sich an einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung zu beteiligen, die insbesondere zum Ziel haben, die Ergebnisqualität zu verbessern und
2. einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement einzuführen und weiterzuentwickeln. […]

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C. Kofahl

Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf

Zentrum für Psychosoziale Medizin

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Email: kofahl@uke.uni-hamburg.de

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