Der Klinikarzt 2009; 38(12): 525
DOI: 10.1055/s-0030-1247220
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Was nützen evidenzbasierte Daten wenn der Gemeinsame Bundesausschuss sie nicht zur Kenntnis nimmt?

Achim Weizel
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Publication Date:
07 January 2010 (online)

Die Koronare Herzkrankheit (KHK) ist in den industrialisierten Ländern seit Jahrzehnten die führende Todesursache, aber auch viele der sogenannten Schwellenländer sind durch Verbesserung der Lebensumstände dabei, aufzuschließen. Die Forschungen der letzten Jahrzehnte konnten die zu den Krankheitszuständen führenden Risikofaktoren weitgehend identifizieren. Neben dem Alter als wichtigstem Risikofaktor sind hier erhöhtes LDL–Cholesterin, Diabetes mellitus, Hypertonie und Zigarettenrauchen zu nennen. Im Unterschied zu anderen Krankheitsgruppen (z. B. maligne Erkrankungen) ist es in den letzten 30 Jahren gelungen, durch Prävention und Therapie die Mortalität der KHK in den industrialisierten Ländern um bis zu 30  % zu senken. Bezüglich der therapeutischen Faktoren haben sich die Einrichtung von Intensivstationen sowie akut und elektiv durchgeführte Eingriffe wie Ballonangioplastie, Stent–Implantationen und koronare Bypass–Operationen positiv ausgewirkt. Auch prophylaktische Maßnahmen wie vermehrte körperliche Aktivität und Beendigung des Rauchens haben zumindest bei motivierten Personen die Prognose verbessert.

Erstaunlicherweise hat es sich gezeigt, dass der erfolgreichste Faktor zur Verbesserung der Prognose – mit einem Anteil von 25  % – die Senkung erhöhter Cholesterinwerte war (Iqbal R et al. Circulation 2008; 118: 1929–1937). Dies hat dazu geführt, dass die Therapie des akuten Koronarsyndroms heute weltweit mit der standardmäßigen Verordnung der 4 „Biggies„ (nach Senges) durchgeführt wird: Beta–Blocker, ACE–Hemmer, Acetylsalicylsäure und Lipidsenker (in der Regel Statine). Es besteht auch Einigkeit, dass eine Prophylaxe bei hoch gefährdeten aber noch nicht symptomatischen Personen sinnvoll ist.

Diese weltweit anerkannten Prinzipien werden durch die Neufassung der Arzneimittel–Richtlinie infrage gestellt, die der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in diesem Jahr erlassen hat, und welche die „Verordnungseinschränkungen und –ausschlüsse” für Lipidsenker definiert. Demnach ist eine Therapie mit Lipidsenkern bei „bestehender vaskulärer Erkrankung (KHK, zerebrovaskulärer Manifestation, pAVK)” gestattet. Allein diese Auswahl ist vom wissenschaftlichen Standpunkt aus etwas überraschend, da von diesen 3 Krankheitsgruppen nur für die KHK verlässliche Daten über die Effekte der Lipidsenkung vorliegen. Die Daten zu CV–Erkrankungen sind uneinheitlich und verlässliche Daten über Lipid–Therapie und AVK liegen überhaupt nicht vor. Trotz der miserablen Datenlage ist hier also eine Therapie erlaubt. In der sogenannten primären Prävention sind dagegen Therapien nur „bei hohem kardiovaskulärem Risiko (über 20  % Ereignisrate in 10 Jahren auf der Basis der zur Verfügung stehenden Risikokalkulatoren)” erlaubt. Dieser Vorschlag ist in der Praxis nur sehr schwierig oder gar nicht umzusetzen.

Zur Kalkulation der Risikofaktoren dienen folgende Scores: PROCAM (Prof. Assmann, Münster), Framingham (Basis sind amerikanische Daten) und ESC. Letzterer entfällt jedoch, da hier nicht die Morbidität sondern die Mortalität das entscheidende Kriterium ist. Von den verbleibenden Scores entfällt ebenfalls der Framingham–Score, da bei seiner Anwendung das Risiko in Deutschland um den Faktor 2 überschätzt wurde. Es bleibt der PROCAM–Score, der die Verhältnisse für Deutschland am besten wiedergibt. Durch die unterschiedliche Schwere der einzelnen Risikofaktoren werden aber auch hier ganze Risikogruppen nicht erfasst. Da das Alter ein hohes Gewicht hat, kommen zum Beispiel junge Patienten mit einer familiären Hypercholesterinämie (FH) nie in den rechnerischen Bereich der Therapieindikation, da sie jung sind und nur einen Risikofaktor haben, der aber erwiesenermaßen ein lebensbedrohliches Risiko darstellt. Noch gravierender ist die Tatsache, dass auch Diabetiker nicht automatisch in die zu therapierende Gruppe fallen. Dies ist deshalb bedenklich, da erwiesen ist, dass der kardiovaskuläre symptomlose Diabetiker ein gleiches Infarktrisiko hat wie ein Patient mit Zustand nach Herzinfarkt und daher hier die Regeln der sekundären Prävention automatisch greifen müssten.

Zahlreiche Fachgesellschaften haben den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) auf die offensichtlichen Schwächen der Verordnung hingewiesen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat in einer Stellungnahme darauf aufmerksam gemacht, dass individuelle Besonderheiten berücksichtigt werden sollten.

Juristisch ist aber die Arzneimittelrichtlinie für die Vertragsärzte (Kassenärzte) verbindlich. Nach § 16 Absatz 5 der Arzneimittelrichtlinie kann der Vertragsarzt zwar die ausgeschlossenen oder in der Verordnung eingeschränkten Arzneimittel ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung auf Kassenrezept verordnen. Dies kann aber unter keinen Umständen eine Dauerlösung sein. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat mit einem Schreiben vom 12. Oktober 2009 auf die Einwände mit dem wenig hilfreichen Vorschlag reagiert: „er (der GBA) geht davon aus, dass der behandelnde Arzt den für seinen individuellen Patienten geeigneten (Score) auswählt.”

Da die verordnete Einschränkung eine große Zahl von potenziellen Patienten betrifft und zudem die Gefahr besteht, dass sinnvolle eingeleitete Therapien abgebrochen werden, sollte der GBA möglichst umgehend eine Modifikation entsprechend den internationalen Richtlinien veranlassen, um weiteren Schaden zu verhüten.

Prof. Dr. med. Achim Weizel

Mannheim

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