NOTARZT 2010; 26(3): 117-118
DOI: 10.1055/s-0030-1248411
Fortbildung
Der toxikologische Notfall
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Süßer Schnaps

F.  Martens1
  • 1Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (komm. Direktoren: Prof. Dr. A. Jörres und Prof. Dr. R. Schindler), Berlin
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Publication Date:
14 June 2010 (online)

Fall 1

Der Notarzt wurde mit dem Stichwort „Plötzliche Bewusstlosigkeit” in ein Einfamilienhaus alarmiert, wo ein Sohn seine alleinlebende, 72-jährige Mutter auf dem Küchenfußboden in nicht ansprechbarem Zustand vorgefunden hatte. Zur Anamnese konnte er berichten, dass er fast täglich mit ihr telefoniere, sie in den vergangenen 2 Tagen jedoch nicht ans Telefon gegangen wäre. Er sei heute erst von einer auswärtigen Montage zurückgekommen und habe sie so gefunden. Seit dem Tod des Vaters vor 2 Jahren sei seine Mutter oft depressiv gewesen und habe relativ viel Alkohol konsumiert. An Vorkrankheiten sei ein Alterszucker und leicht erhöhter Blutdruck bekannt.

Die bereits anwesenden Rettungsassistenten hatten zwischenzeitlich den Blutdruck mit 70 / 40 mm Hg ermittelt sowie eine Herzfrequenz von 124 / min. Die pulsoxymetrische Sättigung lag bei 84 % und stieg unter 12 l O2 über Maske auf 90 % an. Ein Blutzuckertest ergab 160 mg / dl.

Die notärztliche Untersuchung zeigte mittelweite Pupillen mit träger Lichtreaktion, die Extremitäten waren kalt und blass. Auf Schmerzreiz stöhnte die Patientin und reagierte mit diskreter Gesichtsmimik. Beide Lungen waren belüftet, rechtsseitig waren mittelblasige Rasselgeräusche auskultierbar. Auffällig war eine deutlich erhöhte Atemfrequenz von 48 / min. Im Monitor zeigte sich ein tachykarder Sinusrhythmus.

Unter der Arbeitsdiagnose Schockzustand und Koma unbekannter Ursache wurden 2 Venenverweilkanülen gelegt und darüber „im Schuss” 500 ml isotonische Lösung verabreicht. Damit stieg der Blutdruck bis auf 85 / 50 an, an der Vigilanz änderte sich jedoch nichts. Daher wurde die Patientin orotracheal intubiert und beatmet in ein Krankenhaus gebracht.

Die sich anschließende Computertomografie ergab keine fassbare Ursache für die Bewusstlosigkeit. Die erste venöse Blutgasanalyse zeigte eine ausgeprägte metabolische Azidose mit einem pH von 6,73 mit einem Laktat von 130 mg / dl (14,4 mmol / l), einem pCO2 von 16,5 mm Hg sowie einem auf 6,4 mmol / l erhöhten Kalium. Natrium war mit 145 und Chlorid mit 104 mmol / l nicht verändert. Der Zucker lag bei 154 mg / dl. Daraus errechnete sich eine deutlich erhöhte Anionenlücke von 43,7, die auch nach Abzug des Laktats noch bei 29,3 lag. Da ein Coma diabetikum bei dem gemessenen Blutzucker eher nicht vorlag, und eine Ethanolintoxikation ebenfalls ausgeschlossen werden konnte, wurde der Verdacht einer Intoxikation mit säurebildenden Substanzen geäußert und toxikologische Analytik initiiert.

Unter Volumengabe und zusätzlicher Noradrenalininfusion war der Blutdruck auf 115 / 75 anzuheben, auch die Herzfrequenz sank auf 100 / min, doch die Vigilanz und die schwere metabolische Azidose änderten sich zunächst nur wenig. Da auch die Retentionswerte Kreatinin und Harnstoff sowie das Kalium deutlich erhöht waren und keine Diurese bestand, wurde mit einer zunächst 2-stündigen Dialyse begonnen. Danach kam es zu einer Verringerung der Azidose auf 7,33 und einem leichten Anstieg des Bicarbonats. Einige Stunden später lag das Ergebnis der toxikologischen Analyse vor: Ethylenglykol mit 50 mg / l und Diethylenglykol mit 30 mg / l nachweisbar, kein Nachweis von Methanol.

Eine zu diesen Ergebnissen befragte Giftinformationszentrale interpretierte diese Befunde in der Zusammenschau mit den klinischen Befunden als schon länger zurückliegende Intoxikation mit Ethylen- bzw. Diethylenglykol.

In der Folge wurden insgesamt 3 Hämodialysen durchgeführt. Währenddessen kam nach Beseitigung des anfänglichen Volumenmangels die Diurese wieder in Gang. Nach 5 Tagen waren bei Sedationspausen Spontanbewegungen sichtbar, nach 7 Tagen Beatmung war die Extubation möglich. Weitere 7 Tage später erfolgte eine psychiatrische Exploration – diese ergab jedoch keinen Hinweis auf eine abgelaufene Vergiftung. Wegen der bekannten Depression und Hinweisen auf eine beginnende Demenz wurde eine weiterführende psychiatrische Behandlung empfohlen.

Literatur

  • 1 Müller R, Planck J, Heveling T. Äthylenglykolintoxikation.  Anaesthesist. 2009;  58 35-38
  • 2 Takayesu J K, Bazari H, Linshaw M. Case 7–2006: A 47-year-old man with altered mental status and acute renal failure.  N Engl J Med. 2006;  354 1065-1072
  • 3 Amathieu R, Merouani M, Borron S W. et al . Prehospital diagnosis of massive ethylene glycol poisoning and use of an early antidote.  Resuscitation. 2006;  70 285-286
  • 4 Martens F. Gefährliche Lösemittel – Porträt eines Antidots.  Notarzt. 2002;  18 269-271
  • 5 Chaudrhy S D, Pandurangan M, Pinnell A E. Lactate gap and ethylene glycol poisoning.  Eur J Anaesth. 2007;  25 511-513

Priv.-Doz. Dr. Frank Martens

Charité, Campus Virchow Klinikum
Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

Email: frank.martens@charite.de

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