Zahnmedizin up2date 2011; 5(1): 87-107
DOI: 10.1055/s-0030-1250650
Kieferorthopädie

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Skelettale Klasse-II-Anomalie bei Erwachsenen – therapeutische Optionen

Linda Frye, Bettina Glasl, Björn Ludwig, Gero Kinzinger
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Publication Date:
16 February 2011 (online)

Terminologie und Definitionen

Klasse-II-Malokklusionen zählen epidemiologisch zu den häufig vorkommenden Dysgnathien [[1]–[3]]. Erfolgt keine kieferorthopädische Therapie, können sich bestehende Befunde sowohl während der Wachstumsentwicklung als auch später im Laufe des weiteren Lebens verstärken [[4]–[6]].

Okklusionsbefunde

Die Okklusionsbefunde werden klassisch anhand der sagittalen Lagebeziehung der 1. Molaren in 3 Kategorien eingeteilt:

Klasse I = Neutralokklusion/-biss,

Klasse II/1 = Distalokklusion/-biss mit Auffächerung der oberen Front,

Klasse II/2 = Distalokklusion/-biss mit Steilstand der oberen Front.

Klasse III = Mesialokklusion/-biss

Definition nach Angle

E. H. Angle legte 1899 eine bis heute gültige Einteilung der Gebissanomalien in 3 Hauptkategorien fest (Angle-Klasse I–III), wobei die Zuordnung ausschließlich nach dentalen Parametern anhand der Verzahnung der Sechsjahrmolaren erfolgte (Abb. [1]) [[7]].

Abb. 1 a bis d Klassische Einteilung der sagittalen Okklusionsbeziehungen nach Angle. Per Definition wird der mesiobukkale Höcker des oberen Sechsjahrmolaren als Referenz festgelegt und in seiner Lage zum Antagonisten beurteilt. a Angle-Klasse I: Der mesiobukkale Höcker des oberen 6ers greift in die Fissur zwischen mesialem und distalem Höcker des unteren 6ers. b Angle-Klasse II/1: Die Fissur zwischen mesialem und distalem Höcker des unteren 6ers liegt distal des mesiobukkalen Höckers des oberen 6ers. Neben der Distalokklusion steht die obere Front anteinkliniert und in Form einer sog. Spitzfront. c Angle-Klasse II/2: Die Fissur zwischen mesialem und distalem Höcker des unteren 6ers liegt distal des mesiobukkalen Höckers des oberen 6ers. Neben der Distalokklusion steht die obere Front retroinkliniert und in Form einer sog. Flachfront. d Angle-Klasse III: Die Fissur zwischen mesialem und distalem Höcker des unteren 6ers liegt mesial des mesiobukkalen Höckers des oberen 6ers.

Beschreibung der Bisslage

Die Angle-Klassen dienen zur Beschreibung der Okklusion (Neutral-, Distal-, Mesialokklusion), nicht aber zur Beschreibung der skelettalen Lagebeziehung zwischen Ober- und Unterkiefer (Neutral-, Distal-, Mesialbiss). Eine Aussage über die Angle-Klasse kann durch eine kieferorthopädische Modellanalyse oder intraoral beim Patienten gewonnen werden, wohingegen man für die Bestimmung der skelettalen Lagebeziehung eine kephalometrische Auswertung anhand eines Fernröntgenseitenbilds benötigt. Gerade weil die Angle-Klassen auch in der neuzeitlichen Kieferorthopädie häufig als Neutral-, Distal- und Mesialbiss bezeichnet werden, bleibt die Kritik einer Beschreibung rein dentaler Situationen bis heute gültig.

Nach Angles deskriptiver Einteilung, die auch interdisziplinär und weltweit Verwendung findet, besteht neben der Verzahnung und Beschreibung der Frontzahnstellung keine weitere Aufschlüsselung oder Differenzierung der Klasse II.

Die skelettale Relation der Kieferbasen, also die tatsächliche Bisslage, wird nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie der Profil- und Weichteilverlauf oder funktionelle Aspekte.

Merke: Angle traf also keine Unterscheidung zwischen Okklusion und Bisslage, wodurch die Benutzung der Begriffe Neutral-, Distal- und Mesialbiss fachlich und terminologisch irreführend ist. Angle-Klassen vs. Bisslage Die Angle-Klassen beschreiben die Okklusion und damit die Lagebeziehung zwischen Ober- und Unterkieferdentition (Neutral-, Distal-, Mesialokklusion). Die Bisslage definiert sich durch die skelettale Lagebeziehung zwischen Ober- und Unterkiefer (Neutral-, Distal-, Mesialbiss).

Ätiologische Unterscheidung

Ätiologisch müssen Klasse-II-Anomalien dentalen bzw. skelettalen Ursprungs unterschieden werden. So kann sich eine Klasse II durch mesiale Aufwanderung der oberen Seitenzähne (z. B. bei Einbruch der Stützzonen oder Nichtanlagen bleibender Zähne) etablieren. Daher ist auch bei ausgewogenen skelettalen Verhältnissen eine Distalokklusion möglich (Abb. [2]). Genauso kann eine knöcherne Fehllage der Kieferbasen vorliegen, wodurch es zu einer skelettalen Klasse II, also einer relativen Unterkieferrücklage, kommt.

Abb. 2 a und b Distalokklusion versus Distalbiss. Beide Fälle zeigen eine identische Ausprägung der Distalokklusion, unterscheiden sich aber in ihrer skelettalen Konfiguration. a Mesialwanderung der oberen Sechsjahrmolaren in eine vollständige Klasse II bei harmonischen skelettalen Verhältnissen. Ursachen: Einbruch der Stützzonen (ausgedehnte Approximalkaries oder frühzeitiger Milchzahnverlust), Nichtanlage anteriorer Zähne, dystoper Durchbruch oder Verlagerung des Eckzahns. b Inkongruenz der Kieferbasen mit folgender Verzahnung in vollständiger Klasse II. Ursachen: Retrognathie des Unterkiefers, Prognathie des Oberkiefers, kombinierte Fehlstellung.

Die Klasse II sollte entsprechend ihrer kausalen Ursache durch Distalisation (= Rückführung der aufgewanderten Molaren und Prämolaren) im Oberkiefer oder durch ventrale Vorverlagerung des Unterkiefers gelöst werden. Situationsbedingt kann auch eine Extraktionstherapie indiziert sein; hier wird die Fehlstellung durch Nutzung der Extraktionslücken und ausgleichende Zahnbewegungen kompensiert (Camouflage-Orthodontie).

Merke: Viele Klasse-II-Okklusionen kommen durch frühzeitigen Einbruch der Stützzonen (tiefe Approximalkaries oder Extraktion von Milchmolaren) zustande.

Dabei bestehen im Oberkiefer ein mesialer Aufwanderungstrend und im Unterkiefer insbesondere eine Distaldrift der Zahnkeime, sodass bei Einbruch der Stützzonen in beiden Kiefern ein verstärkender Gesamteffekt resultieren kann.

Therapie

Die Distalokklusion (dentale Klasse II) wird durch dentale Maßnahmen behandelt. Bei kausalem Therapieansatz werden die Molaren in eine Klasse-I-Okklusion distalisiert (Abb. [3]), bei Extraktion erfolgt alternativ eine Einstellung der Molaren in eine gesicherte Klasse-II-Okklusion.

Abb. 3 a bis c Beispiel zur Behandlung einer dentalen Klasse II. a Aufwanderung der Seitenzähne nach Verlust des Milcheckzahns 53 und dystopem Durchbruch des permanenten Nachfolgers. b Die körperliche Distalisation erfordert neben einem ausreichenden Kraftniveau insbesondere eine zielgerichtete Kraftapplikation. Beides wird hier durch ein Widerlager über 2 im anterioren Gaumen inserierte Minischrauben aufgebaut und über die knochengetragene Verankerung sicher abgestützt. Die Molaren werden über Pendelfedern und Verstärkung durch eine Stellschraube distalisiert, wobei das Gerät ausschließlich von den zu bewegenden Zähnen und den im Gaumen platzierten Minischrauben getragen wird (sog. skelettales K-Pendulum). c Ausgeformter Zahnbogen mit Einordnung des Eckzahns. Durch die skelettale Abstützung konnten reaktive Kräfte, d. h. nach mesial gerichtete und somit protrusive Gegenkräfte auf das Frontsegment abgefangen werden. Molarendistalisation Trotz des erhöhten apparativen und zeitlichen Aufwands ist die Molarendistalisation ein von Patientenseite gerne gewählter, da konservativer Lösungsweg (Abb. 3). Wachstumsphasen Die Therapie des Distalbisses (= skelettale Klasse II, relative Unterkieferrücklage) nutzt vorwiegend die im Wechselgebiss oder frühen adulten Gebiss verfügbaren Wachstumsphasen. Funktionskieferorthopädische Therapie Bekannte Behandlungsgeräte zur Bisslagekorrektur sind z. B. der Aktivator, der Funktionsregler II nach Fränkel, die Vorschub-Doppelplatte oder der Twinblock, bei deren Tragen eine stimulierende Krafteinwirkung auf die umliegenden Gewebe entsteht (sogenannte funktionskieferorthopädische Therapie) [8, 9]. Merke: Therapeutisches Ziel ist die funktionelle Umformung des stomatognathen Systems in eine Neutralbisslage. Dabei sind in erster Linie muskuläre und später artikuläre/suturale Effekte entscheidend. Die induzierte Ventralverlagerung fördert die mesiale Muskeladaptation und übt tagsüber einen aktiven Trainingseffekt aus, der anfangs eine rein muskuläre Vorverlagerung bewirkt. Im Laufe der Tragezeit treten entsprechende artikuläre Umbauprozesse ein. Therapie nach abgeschlossenem Wachstum Dieser Artikel thematisiert nachfolgend die therapeutischen Möglichkeiten und Grenzen bei erwachsenen Patienten mit skelettaler Klasse-II-Anomalie und abgeschlossenem Wachstum unter besonderer Berücksichtigung ästhetischer und funktioneller Therapieoptionen.

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Prof. Dr. med. dent. Gero Kinzinger

und Klinik für Kieferorthopädie
Universitätsklinikum des Saarlandes

Willicher Str. 12

47918 Tönisvorst

Kirrberger Straße 1

66421 Homburg/Saar

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