Dtsch Med Wochenschr 2010; 135(17): 847
DOI: 10.1055/s-0030-1253665
Editorial
Ernährungsmedizin, Statistik
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Brauchen wir BMI-Perzentilen für Erwachsene?

Percentiles of body mass index for adults?H. Hauner1
  • 1Else-Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin der TU München, Kompetenznetz Adipositas
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Publication Date:
20 April 2010 (online)

BMI-Perzentilenkurven sind zur Berechnung von Übergewicht und Adipositas in der Kinder- und Jugendmedizin Standard für die Bewertung des Körpergewichts. Hierfür hat die Publikation deutscher Pädiater auf der Grundlage mehrerer deutscher Kohorten einen wichtigen Beitrag geleistet [6]. Diese BMI-Perzentilenkurven bilden die Grundlage für die heutige Definition von Übergewicht (> 90 % Perzentile) und Adipositas (> 97 % Perzentile, jeweils im Vergleich zur Referenzpopulation). Die Angaben zur Häufigkeit von Übergewicht bzw. Adipositas bei Kindern und Jugendlichen im Rahmen des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys basieren auf diesen Kriterien [7].

Bei Erwachsenen wird das Körpergewicht anhand der BMI-Klassifikation der WHO kategorisiert. Eine Unterteilung nach Geschlecht und Alter ist dabei nicht vorgesehen. Schon lange wird diskutiert, inwieweit das Alter bei der Beurteilung des Gesundheitsrisikos stärker berücksichtigt werden muss. Die meisten großen Kohortenstudien zeigen, dass der Effekt des BMI auf die Mortalität mit steigendem Lebensalter rückläufig ist [2] [9]. Im Alter von > 65 Jahren scheint zudem der BMI-Bereich 25–29,9 kg/m2 mit der niedrigsten Mortalität assoziiert zu sein. Bereits 1985 war daher von Andres vorgeschlagen worden, die Empfehlungen für den BMI dem Alter anzupassen [1]. Schon lange ist bekannt, dass die Bedeutung des BMI für die Beurteilung des Gesundheitsrisikos bei Erwachsenen begrenzt ist [4]. Daher wurde als weiteres Kriterium das Fettverteilungsmuster durch Messung des Taillenumfangs eingeführt. Dieser Parameter ist wesentlich für das Risiko metabolischer und kardiovaskulärer Komplikationen [11]. Nicht zu unterschätzen ist aber, dass die BMI-Klassifikation auf vielen epidemiologischen Studien basiert und somit eine sehr gute Datenbasis vorliegt. Ein Beispiel dafür ist die kürzlich publizierte Meta-Analyse von 57 prospektiven Studien zum Zusammenhang zwischen BMI und Mortalität [10] . Für BMI-Perzentilenkurven in der Erwachsenenmedizin gibt es im Gegensatz zur Pädiatrie kaum solche Studien, sodass diese keine praktische Bedeutung erlangt haben.

Die Nationale Verzehrsstudie II [8] bietet einen umfangreichen Datensatz, der von Hemmelmann et al. genutzt wurde, um mittels LMS-Methode [3] BMI-Perzentilenkurven für Erwachsene zu entwickeln [5]. Damit stehen für Deutschland erstmals BMI-Perzentilenkurven auf der Grundlage eines aktuellen Datensatzes zur Verfügung. Diese lassen deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede erkennen, die zum Teil auf die relativ höhere Muskelmasse bei den Männern zurückzuführen sind.

Damit stellt sich unweigerlich die Frage, welchen Nutzen solche Kurven haben und wo ihre Vorteile gegenüber der üblichen BMI-Klassifikation liegen. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Die Autoren argumentieren, dass BMI-Perzentilenkurven besser für die Abhängigkeit des BMI von Alter und Geschlecht korrigieren können und so möglicherweise eine differenziertere Betrachtung erlauben. Dies ist zwar prinzipiell richtig, löst aber nicht das Dilemma, dass Studien fehlen, die Perzentilenkurven mit dem Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko in Beziehung setzen. Ob die Verwendung von BMI-Perzentilenkurven eine Verbesserung darstellt, bleibt abzuwarten und ist keineswegs sicher. Damit relativiert sich auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit der BMI-Klassifikation, die von den Autoren aufgeworfen wird. Es fehlt bislang an überzeugenden Beispielen für die Überlegenheit von BMI-Perzentilenkurven gegenüber der WHO-Klassifikation in der Erwachsenenmedizin. Solange dies nicht gelingt, wird der etablierte BMI seinen Stellenwert nicht verlieren. Dazu haben wir uns zu sehr an diesen Parameter gewöhnt. Unabhängig davon stellen BMI-Perzentilenkurven für Erwachsene eine wertvolle Neuheit dar und schaffen erst die Voraussetzung für zukünftige vergleichende Studien, um die offenen Fragen zu klären.

Literatur

  • 1 Andres R, Elahi D, Tobin J D. et al . Impact of age on weight goals.  Ann Intern Med. 1985;  103 1030-1033
  • 2 Calle E E, Thun M J, Petrelli J M. et al . Body-mass index and mortality in a prospective cohort of U.S. adults.  N Engl J Med. 1999;  341 1097-1105
  • 3 Cole T J, Green P J. Smoothing reference centile curves: the LMS method and penalized likelihood.  Stat Med. 1992;  11 1305-1319
  • 4 Hauner H. Übergewicht – alles halb so schlimm? (Editorial).  Dt Ärztebl. 2009;  106 639-640
  • 5 Hemmelmann C, Brose S, Vens M. et al . Perzentilen des Body-Mass-Index auch für 18- bis 80-Jährige? Daten der Nationale Verzehrsstudie II.  Dtsch Med Wochenschr. 2010;  135 848-852
  • 6 Kromeyer-Hauschild K, Wabitsch M, Kunze D. et al . Perzentile für den Body-Mass-Index für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiedener deutscher Stichproben.  Monatschr Kinderheilkd. 2001;  149 807-818
  • 7 Kurth B -M, Schaffrath R  A. Die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys.  Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz. 2007;  50 736-743
  • 8 Max Rubner Institut .Nationale Verzehrsstudie II. Ergebnisbericht Teil 1. 2008
  • 9 Pischon T, Boeing H, Hoffmann M. et al . General and abdominal adiposity and risk of death in Europe.  N Engl J Med. 2008;  359 2105-2120
  • 10 Prospective Studies Collaboration . Body-mass index and cause-specific mortality in 900 000 adults: collaborative analyses of 57 prospective studies.  Lancet. 2009;  373 1083-1096
  • 11 Yusuf S, Hawken S, Ounpuu S. et al . Obesity and the risk of myocardial infarction in 27.000 participants from 52 countries: a case-control study.  Lancet. 2005;  366 1640-1649

Prof. Dr. Hans Hauner

Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin der Technischen Universität München

Ismaninger Str. 22

81675 München

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