DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2010; 8(04): 24-25
DOI: 10.1055/s-0030-1254420
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Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Volumen- und Elastizitätsdiagnostik des Kraniums

Peter Wührl
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Publication Date:
12 October 2010 (online)

Ursprung, Amplitude und Rhythmus der kraniosakralen Bewegungen werden in der osteopathischen Literatur breit diskutiert. Angesichts des Neurokraniums mag man sich in einer ruhigen und diskursfreien Minute aber fragen: Wie kam die Frage nach Bewegung in den Schädel? Und warum spielen Nicht-Bewegungs-Aspekte kaum eine Rolle?

Der folgende Text fragt nach diesen anderen Aspekten, z. B. Raum, Volumen, Elastizität. Er ist ein Plädoyer für eine raumwahrnehmende Diagnostik, die das mechanische Verhältnis von innerem Raum und äußerem Container systematisch entwickelt.

Ein berühmter osteopathischer Entdeckungsmythos erzählt von der Inspirations-Vision Sutherlands beim Anblick eines in seine einzelnen Knochen zerteilten, frei schwebenden Schädels. Dank seiner Vorstellungskraft sah er in dieser Anordnung die Möglichkeit einer Atmungsbewegung. Inspirierend und irritierend (weil schwer nachzuvollziehen) bleibt, dass die schrägen Gelenkflächen, die das Os sphenoidale und Os temporale trennen, Sutherland an die Kiemen eines Fisches erinnerten. Insofern war seine respiratorische Vision weniger an die pulmonale Atmung angelehnt, als an die wasserumspülten (oder auch Wasserumspülung produzierenden) Kiemen. Dennoch sprach er später von Primary Respiration in Anlehnung an die sekundäre (= pulmonale) Respiration.

Bleibt man beim Bild der Atmung, dann läge es nahe, den Zugang zur osteopathischen Diagnostik des Schädels über ein Volumen-Druck-System zu suchen. Ein- und Ausatmen geht mit Volumen- und Druckänderungen einher. Erlebt wird Ausdehnen und Zusammenziehen, Füllen und Leeren. Im Bild des atmenden Schädels sind relative Bewegungen zwischen den verschiedenen Anteilen des Kraniums nicht erkennbar. Ausdehnen und Zusammenziehen kann sich eine Struktur im Rahmen ihrer eigenen Verformbarkeit. Rhythmische Volumenschwankungen müssten als formdynamische und elastische Anpassungsleistungen ausreichend beschreibbar sein. Eine raum- und volumenwahrende Palpation im Atmungsparadigma wäre gegen die Vernachlässigung der Volumen- und Formdynamik gefeit. Die Diskussion nach Sutherland war erstaunlicherweise vom Problem der Beweglichkeit, also von der intersegmentalen Bewegung bzw. der räumlichen Verlagerung einer Struktur, bestimmt. Inzwischen beeinflusst dieser verengte Blick auf die Bewegung auch das Verständnis der sekundär-respiratorischen Atmungsfunktion, wie die sog. Einatmungsbewegung des Diaphragma abdominalis zeigt.

 
  • Literatur

  • 1 Edelman GM. Naturalizing consciousness: A theoretical framework. PNAS 2003; 9: 5520-5524
  • 2 Ernst A, Marchbanks R, Samii M Hrsg. Intracranial and intralabyrinthine fluids: Basic aspects and clinical applications. Berlin: Springer; 1996
  • 3 Singer W. Der Beobachter im Gehirn. Frankfurt: Suhrkamp; 2002