Der Klinikarzt 2010; 39(6): 269
DOI: 10.1055/s-0030-1262961
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Spiritualität in der Medizin wieder gefragt?

Winfried Hardinghaus
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Publication Date:
09 July 2010 (online)

Verehrte Leserinnen und Leser, vielleicht haben Sie auch schon beobachtet, was wir vor 10–20 Jahren noch für schier unmöglich gehalten hätten: Auf einschlägigen medizinischen Fachkongressen z. B. werden ethische Themen, ja sogar Religiosität oder Spiritualität hoffähig.

Gut, Spiritualität und Sinnhaftigkeit des Lebens und des Sterbens, das wissen wir, hängen in unserer Betrachtungsweise so eng zusammen, wie der Tod zum Leben gehört und wie wir versuchen, ihn dort nicht auszuklammern. Noch mehr wenn wir uns tief besinnen: Ein spiritueller Ansatz besagt, dass der Mensch sein Leben von Anfang an der Liebe zweier Menschen und nicht zuletzt der seines Schöpfers verdankt. In seinen Beziehungen also erfährt der Mensch das Fundament seiner Existenz, seines Lebens.

Eine jüngere, bereits preisgekrönte Studie bestätigt vom psychologisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus, was aus Religion bzw. Philosophie bekannt war: Auch Menschen mit infauster Krankheitsprognose ist es möglich, ihr Dasein weiterhin als lebenswert zu empfinden. Gleichzeitig steigen bei ihnen deutlich die Werte für Familie oder für Natur im Vergleich zu den Belangen gesunder Tage [1]. Der Sinneswandel kommt auch sehr schön in einem neueren Buch aus der Münchner Reihe „Palliative Care“ zum Ausdruck.

Die spirituelle Begleitung in unserer Therapie, im Eigentlichen in unserer Arzt-/Patientenbeziehung, ermutigt unsere Kranken gleichfalls, ihr Leiden und ihre spirituellen Ressourcen zur Sprache bzw. zu Gehör zu bringen. Voraussetzung dafür – aber auch damit sage ich nichts wirklich Neues – ist eine partnerschaftliche, empathische Annahme auf Augenhöhe.

Leicht ist das nicht immer in Anbetracht technischer oder pharmakologisch-innovationer Möglichkeiten und Verlockungen.

Das Beispiel der neuen gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung zeigt indes gut, wie wichtig es ist, weiter ethisch und spirituell zu argumentieren. Ich meine hier insbesondere den jetzt juristisch erlaubten Auswuchs der Erweiterung der Reichweitenbegrenzung, d. h. den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen in jedem (!) Krankheitsstadium. Klar dagegen steht sogar das medizinische Argument, wenn noch im Einzelfall gute Heilungschancen bestehen oder die soziologische Begründung, wenn die Gefahr des gesellschaftlichen Drucks auf Kranke und Angehörige besteht.

Kollege Prof. Dr. med. Günther Wiedemann, Onkologe aus Ravensburg und neues Mitglied in unserer klinikarzt-Schriftleitung, hatte sich bereits in der Januar-Ausgabe des klinikarzt dem Thema Patientenverfügung gewidmet.

Ich möchte – auch aus meiner Erfahrung als Palliativmediziner – für heute noch festhalten: Leiden ist nicht zwangsläufig würdelos. Sich helfen zu lassen, bedeutet nicht zwangsläufig den Verlust der Autonomie. Im Gegenteil: Autonomie kann unter Umständen durch Fürsorge erst möglich werden.

Von der aus den Niederlanden stammenden Trauerbegleiterin Dr. Ruthmarijke Smeding, kommt der Satz: „Das Loch, in das ich fiel, wurde zur Quelle, in der ich lebe“. Sie macht zur Überbrückung einer „Schleusenzeit“ zwischen Tod und Trauer die Spiritualität zum Gegenstand der Trauerarbeit und empfiehlt, dazu auch den Blick nach hinten zu richten, in das frühere Beziehungsgeflecht wohlgemerkt.

Für die Zukunft ist zu fordern, das Thema Spiritualität auch in der Wissenschaft noch mehr in den Blick zu nehmen. Wichtig bleibt mir neben der Forschung über die Spiritualität vor und nach dem Tod bereits die Forschung über die Spiritualität weit vor dem Tod.

Definition der Spiritualität

„Unter Spiritualität kann die innere Einstellung, der innere Geist wie auch das persönliche Suchen nach Sinngebung eines Menschen verstanden werden, mit dem er Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existenziellen Bedrohungen zu begegnen versucht.“

(AK Seelsorge der DGP, 05.12.2006) Vorgelegt von C. Müller-Busch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin

Literatur

  • 1 Fegg MJ, Kramer M, L'hoste S, Borasio GD.. The Schedule for Meaning in Life Evaluation (SMiLE): validation of a new instrument for meaning-in-life research.  J Pain Symptom Manage. 2008;  35 356-364
  • 2 Frick E, Roser T.. Spiritualität und Medizin.. Stuttgart: Kohlhammer; 2009

Prof. Dr. med. Winfried Hardinghaus

Osnabrück

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