Dtsch Med Wochenschr 2010; 135(37): 1791
DOI: 10.1055/s-0030-1263320
Editorial | Editorial
Allgemeinmedizin, Pädiatrie
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Antibiotikaverordnung – wer, wo, was, wie ?

Antibiotic prescribing – who, where, what, how?W. V. Kern1
  • 1Medizinische Universitätsklinik Freiburg
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Publication Date:
07 September 2010 (online)

Seit einigen Jahren wissen wir: Die Antibiotika-Verordnungsdichte in Deutschland im ambulanten Bereich ist beim europäischen Vergleich weder Spitze noch Schlusslicht [3] [5] [6], sondern unteres Drittel. Statistisch wurden in Deutschland in den letzten Jahren 13 – 15 Antibiotika-Tagesdosen pro 1000 Einwohner und Tag ausgegeben. Ähnlich in Österreich. In Frankreich sind es deutlich mehr, allerdings mit rückläufiger Tendenz. In der Schweiz ist es, wie auch bei den Holländern und in einigen skandinavischen Ländern, weniger – vorbildlich!

Entgegen einer weit verbreiteten Annahme sind es keineswegs nur betagte Mitbürger, die viele Antibiotika verbrauchen, sondern besonders auch Kinder. Untersuchungen zeigen, dass bei Kindern bis 9 Jahre die Antibiotika-Verschreibungsrate bei 40% – 50% liegt [9] [10]. Nahezu jedes zweite Kind bekommt hierzulande pro Jahr ein Antibiotikum verordnet! Und wir sind im unteren Drittel der Verschreibungsdichtestatistik! Dies hat viele Implikationen. Es ist die Masse von A-Streptokokken und Pneumokokken, die gerade über diese intensive Antibiotikabehandlung im Kindesalter erheblich exponiert und damit zunehmend resistent gegenüber bewährten Substanzen wird. Deutschland – wie viele andere Länder – darf sich nicht wundern, dass die Makrolidresistenz bei Pneumokokken in den letzten 10 – 20 Jahren angestiegen ist [2] [5]. Substanzen wie Erythromycin und Clarithromycin kann man inzwischen nur noch eingeschränkt für die Behandlung von Atemwegsinfektionen empfehlen. Eine zweite Folge einer (zu) intensiven Antibiotikabehandlung im Kindesalter sind vermehrte Allergien [4] [7]. Wissenschaftlich ist dies nicht im Detail geklärt, doch viele Befunde sprechen für eine solche Assoziation, nur wenige sprechen dagegen.

Verantwortlich sind wir Ärzte. Verantwortlich, wenn dies so bleibt, und verantwortlich dafür, dass es sich (hoffentlich) ändert. Innerhalb Deutschlands gibt es unerklärte Unterschiede im Antibiotika-Verordnungsverhalten [2] [3] [6]. Spitzenreiter waren und sind die westlichen Regionen. Nahezu vorbildlich waren und sind die neuen Bundesländer. Studien belegen, dass es in Gegenden, in denen die Kollegen kritischer verschreiben, möglich ist, die Antibiotika-Verordnungsrate zu senken, ohne Patienten zu gefährden [8]. Auch in Deutschland gibt es eine solche Studie, mit der gezeigt wurde, dass der Griff zum Rezept bei Atemwegsinfektionen viel mehr hinterfragt werden kann und muss [1]. 90 % dieser Erkrankungen sind keine Indikation für eine Antibiotikabehandlung. Bei Bronchitis ließ sich die Antibiotikaverordnung durch Hausärzte in Nordrhein-Westfalen um 40 bis 60 % senken – allein durch verbesserte Arzt-Patienten-Kommunikation – ohne Hilfsmittel wie C-reaktives Protein oder Procalcitonin!

Der Artikel von S. Abbas und Kollegen in dieser Ausgabe der DMW (S. 1792) spricht eine klare Sprache. Die Antibiotika-Verschreibungsrate bei einer Stichprobe von Kindern aus Hessen betrug insgesamt 42 %, bei Unter-10-Jährigen war sie > 50 %! Die Antibiotikaverschreibung bei kindlichen Atemwegsinfektionen ist damit erneut als zu hoch dokumentiert. Allgemeinärzte verschreiben hier Antibiotika noch häufiger als Kinderärzte. 43 % vs. 29 % der Kinder mit Atemwegsinfektion bekommen ein Antibiotikum. Indiziert und unstrittig sind vermutlich nur 10 %. Zwar kann durch diagnostische Unsicherheit und andere Umstände die Rate akzeptabler Indikationen bei 10 – 25 % liegen. Dennoch bleibt viel „Raum” für Optimierung! Die Frage ist wie? Wie lässt sich die kritische, sachgerechte Indikation für Antibiotika bei Atemwegsinfektionen verbessern? Wer übernimmt die Verantwortung? Wer bemüht sich um entsprechende Versorgungsforschungsprojekte? S. Abbas und Kollegen zeigen, dass wir hier aus den bereits vorhandenen Daten mehr lernen können. Interventionen müssen die Folge sein.

Literatur

  • 1 Altiner A. et al . Reducing antibiotic prescriptions for acute cough by motivating GPs to change their attitudes to communication and empowering patients: a cluster-randomized intervention study.  J Antimicrob Chemother. 2007;  60 638-644
  • 2 Bundesamt für Verbraucherschutz, Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Chemotherapie e. V., Infektiologie Freiburg (Hrsg) .GERMAP 2008 Antibiotika-Resistenz und Verbrauch. Rheinbach: Antiinfectives Intelligence, Gesellschaft für klinisch-mikrobiologische Forschung und Kommunikation mbH; 2008
  • 3 With H de. et al . Antibiotikaanwendung in Deutschland im europäischen Vergleich.  Dtsch Med Wochenschr. 2004;  129 1987-1992
  • 4 Foliaki S. Antibiotic use in infancy and symptoms of asthma, rhinoconjunctivitis, and eczema in children 6 and 7 years old.  J Allergy Clin Immunol. 2009;  124 982-989
  • 5 Goossens H. et al . Outpatient antibiotic use in Europe and association with resistance.  Lancet. 2005;  365 579-587
  • 6 Günther J. et al .Solange sie noch wirken..... Analysen und Kommentare zum Antibiotikaverbrauch in Deutschland. WIdO Bonn/Universität Freiburg; 2003
  • 7 Marra F. et al . Does antibiotic exposure during infancy lead to development of asthma?.  Chest. 2006;  129 610-618
  • 8 Ranji S R. et al . Interventions to reduce unnecessary antibiotic prescribing.  Med Care. 2008;  46 847-862
  • 9 Schindler C. et al . Prescriptions of systemic antibiotics for children in Germany aged between 0 and 6 years.  Pharmacoepidemiol Drug Saf. 2003;  12 113-120
  • 10 von Ferber L. et al .Wieviel Arzneimittel (ver)braucht der Mensch? . Bonn: WIdO; 1996

Prof. Dr. Winfried V. Kern

Zentrum Infektiologie und Reisemedizin
Medizinische Universitätsklinik Freiburg

Hugstetterstraße 55

79106 Freiburg

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