PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(1): 93-94
DOI: 10.1055/s-0030-1266049
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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Peter  Geißler
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Publication History

Publication Date:
14 March 2011 (online)

Jörg M. Scharff (2010): Die leibliche Dimension in der Psychoanalyse.
Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, 208 Seiten, 19,90 Euro.

Der Buchautor kommt aus dem Frankfurter Psychoanalytischen Institut, mit welchem klingende Namen wie Horkheimer, Adorno, Lorenzer oder Mitscherlich assoziiert sind. Er ist Psychoanalytiker mit Leib und Seele, aber er ist einer derjenigen, die über den Tellerrand hinausschauen. Seine körpertherapeutischen Erfahrungen stammen aus Workshops mit Al Pesso, und seinen szenischen Ansatz, der selten, aber doch zur Anwendung kommt, nennt er „inszenierende Interaktion”. In der Einführung definiert er die Grenze, an der die Psychoanalyse derzeit steht: „Was die eigene Beteiligung des Analytikers an den Prozessen in der analytischen Situation angeht, wird man heutzutage auf breite Zustimmung stoßen. Sobald sich diese Mitwirkung aber auch der leiblichen und damit sinnlich wahrnehmbaren Ebene manifestiert, gibt es ein Zögern, den Diskurs fortzuführen” (S. 11). Auch die Schwierigkeit benennt er klar, denn „… das Gewahrsein der leiblichen Befindlichkeit und Interaktion (droht) am ehesten aus dem Blick zu geraten, einfach deshalb, weil es uns stets am nächsten ist, am meisten beim unbeschwerten Denken stört und von seiner Natur her etwas ist, über das wir am wenigsten verfügen können” (S. 189).

Wesentlich ist der Schluss, dass „… das Leiblich-Sinnliche … seine Aufmerksamkeit (braucht). Die wiederum kann es nur bekommen, wenn es auch im Diskurs der analytischen Community Platz hat” (S. 189), und zwar nicht nur im Zusammenhang mit der Triebtheorie. Sinnliche Wahrnehmungen, schreibt er, sind nämlich intime Vorgänge, sie sind als Grundlage der analytischen Rêverie jedem Analytiker bekannt, aber es wird im öffentlichen Diskurs selten darüber berichtet. Genau dieser ist aber notwendig, damit solchen Wahrnehmungsprozessen in der Behandlungspraxis und folgerichtig auch in der Ausbildung methodischer Rang zuerkannt wird (S. 18), und ebenso zentral ist er für „die Verständigung unter Kollegen, wenn wir klinisches Material veröffentlichen …” (S. 189).

Die musikalische Ebene des analytischen Dialoges ist auch deswegen wichtig, weil der Analytiker auf der Basis einer „verkörperten gleichschwebenden Aufmerksamkeit” – d. h. sich ohne Verurteilung dessen gewahr zu werden, was gerade vor sich geht, einschließlich Zuständen von Unaufmerksamkeit, Erregung und Aggression (S. 18) – gleichsam eine Richtschnur im Hinblick auf die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten einer analytischen Situation in die Hand bekommt. Dadurch wird klar, was einen „guten psychoanalytischen Moment” auszeichnet: dass die psychoanalytische Erkenntnis in der Resonanz als seelisches Geschehen körperliches Erleben annehmen kann (S. 185), also dass sie in ihrer Bedeutsamkeit gleichsam gespürt wird. Denn: All jene Momente, in denen das Beziehungsgeschehen in seiner leiblich-affektiven Dimension unmittelbar erfahren und dann in Worte gefasst werden kann, sind von zentraler Bedeutung. Hier entsteht ein Erkenntnisvorgang, dessen Überzeugungskraft in der Übereinstimmung von szenischem Erleben und leiblicher Binnenwahrnehmung liegt, und ein Verstehen, das in einer solchen Gesamtgestalt wurzelt, birgt ein hohes therapeutisches Veränderungspotenzial (S. 18).

Kapitel 1 beschäftigt sich mit dem Sexuellen in der psychoanalytischen Praxis, und in Zusammenhang damit bezieht Scharff klar Position: Obwohl der leiblich-gestische Beziehungsmodus im Prägenitalen wurzelt, geht die Vorstellung fehl, dass sich das Zwischenleibliche in der analytischen Situation nur im frühen Modus, nicht aber auf ödipaler Ebene in Szene setzt. Darüber hinaus formt die unbewusste Fantasie das, was auf leiblicher Ebene wahrgenommen wird, und wechselseitige leibliche Botschaften lösen unbewusste Fantasien im Sinne wechselseitiger Verführung aus (S. 12). Beim Lesen dieses Kapitels hat mich die klare, aber zugleich gut verstehbare psychoanalytische Sprache beeindruckt, denn für nicht klassisch sozialisierte psychoanalytische Psychotherapeuten wie mich ist die Lesbarkeit psychoanalytischer Beiträge oft ein Problem – man denke z. B. an Schriften von Lacan oder Bion. Scharffs Verständlichkeit ist beeindruckend, ja vorbildhaft und verweist auf ein feines Gespür, was man dem Leser zumuten kann.

Im zweiten Kapitel zum „Verwickeln und Entwickeln” fand ich besonders wichtig, wie klar der Autor herausstreicht, dass Rahmenbedingungen, Abstinenz und Neutralität nicht als unveränderbare Konstanten betrachtet werden können, sondern voll von „psychodynamischen Schlupflöchern” (S. 45) sind. In diesem und im dritten Kapitel, der ausführlichen Analyse eines Patienten mit einer Perversion, gelingt es Scharff, eine typische Denkstörung in Anlehnung an Bion („Minus K”, K steht für „knowledge”) in ihrer Wirksamkeit auf das therapeutische Geschehen treffend zu beschreiben.

Kapitel 4 zentriert sich dann ganz auf die leibliche Dimension in der Psychoanalyse und nähert sich den brennenden Fragen Schritt für Schritt an: der Leibbezug der Sprache, das Leibliche im Sprechen, leibliche Inszenierungen am Rande der analytischen Stunde, und schließlich „der Behandlungsraum als Aktionsraum”. Scharff positioniert sich hier in geradezu weiser Manier folgendermaßen: „Je nach Art und Grad der Störung und dem, was der Analytiker tolerieren kann, beanspruchen einige Patienten für Momente oder auch für eine längere Zeit den analytischen Behandlungsraum in unkonventioneller Weise” (S. 151), und unter Verweis auf das Lehrbuch „Psychoanalyse der Lebensbewegungen” (Geißler u. Heisterkamp 2007) „erlauben die … gesammelten Beiträge dem Leser, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob er ein solches Vorgehen der Psychoanalyse zurechnen will oder nicht”. Das ist eine Formulierung, die Spielraum für weitere künftige Entwicklungen an der Schnittstelle von Psychoanalyse und Körperpsychotherapie zulässt!

Dr. med. Dr. phil. Peter Geißler

Dr. Paul Fuchsiggasse 12

2301 Neu-Oberhausen

Österreich

Email: geissler.p@aon.at

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