Suchttherapie 2010; 11(4): 157
DOI: 10.1055/s-0030-1268432
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychotherapie und Suchtbehandlung

G. Bischof, M. Klein
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Publication Date:
29 November 2010 (online)

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in der Geschichte der Psychotherapie stellten Suchterkrankungen über einen langen Zeitraum einen eher vernachlässigten Bereich dar, der von einem therapeutischen Pessimismus flankiert wurde. Zugleich lässt sich beispielhaft am therapeutischen Umgang mit Suchterkrankten die Verschränkung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurspraktiken mit therapeutischen Angeboten nachvollziehen. Die lange dominierenden Konzeptionalisierungen von Substanzabhängigkeit als Zeichen moralischer Schwäche oder einer unheilbaren, chronisch progredienten somatischen Erkrankung führten zu einer stärkeren Fokussierung der Behandlung auf den Aufbau geschützter Umgebungen und der Strukturierung des Tagesablaufs mit suchtinkompatiblen Verhaltensweisen, ohne dass störungsspezifischen Psychotherapien ein relevanter Nutzen zugeschrieben wurde. In der Frühphase der Suchthilfe herrschten disziplinarisch kontrollierende Verfahren mit Anteilen der religiösen Unterweisung („ora et labora”) vor. Störungsspezifische Modelle wurde zunächst weitgehend unabhängig von der Versorgungspraxis insbesondere im Rahmen der Lerntheorie entwickelt und fanden seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend Eingang in die Behandlungspraxis. Gerade die systematische Beforschung von Interventionsformen trug dazu bei, dass die ehemals autoritär geprägten therapeutischen Umgangsformen mittlerweile einem stärker partnerschaftlichen Verständnis therapeutischer Beziehungen auch in der Suchtkrankenversorgung gewichen sind. Deutlich wurde zudem, dass Suchtkranke eine heterogene Klientel mit unterschiedlichsten Schweregraden der Störung und unterschiedlichen Ressourcen und psychischen Zusatzdiagnosen darstellen. Die zunehmende Professionalisierung in der Psychotherapie Suchtkranker führte in den vergangenen Jahren dementsprechend zu einer stärkeren Orientierung an Fragestellungen hinsichtlich der Indikationsstellung: welche Subgruppen, welche Patienten mit welchen komorbiden Störungen benötigen spezifische Behandlungskonzepte?

Das vorliegende Heft soll einen kritischen Überblick zum aktuellen Wissens- und Forschungsstand psychotherapeutischer Verfahren in der Suchttherapie geben. Einen erfahrungsbezogenen Streifzug durch die Suchtkrankenhilfe in den letzten 40 Jahren finden Sie in dem Interview mit Prof. Gerhard Bühringer, welches im September am Rande des Deutschen Suchtkongresses durchgeführt wurde. Einen Überblick zum Stand der Wirksamkeitsforschung von Psychotherapie bei Suchtmittelerkrankungen anhand einschlägiger Meta-Analysen gibt der Artikel von Dr. Gallus Bischof. Während die gut untersuchten verhaltenstherapeutischen Verfahren und – auch bedingt durch gestiegene Forschungsbemühungen – systemische Ansätze auf gute Wirksamkeitsbelege zurückgreifen können, sind entsprechende Nachweise hinsichtlich tiefenpsychologischer und humanistischer Verfahren einzufordern. Dr. Johannes Lindenmeyer stellt in seinem Beitrag auf neuropsychologischen Grundlagen basierende Konzepte zur Rückfallprävention bei Alkoholabhängigen vor, welche zugleich sich von den traditionellen, auf expliziten Kognitionen basierenden verhaltenstherapeutischen Paradigmen absetzt. Gender-spezifische Interventionsangebote referiert Prof. Irmgard Vogt in ihrem Beitrag und weist auf die gegenüber den USA unzureichenden Forschungsbefunde und Behandlungsangebote in Deutschland hin. Die Frage, welches Maß an Zieloffenheit in der Suchtkrankenhilfe angestrebt werden sollte, ist Gegenstand der Pro- und Con-Debatte zwischen Prof. Karl Mann und Prof. Joachim Körkel. Es handelt sich bei den Beiträgen in diesem Heft um eine in Hinblick auf DSM-IV aktualisierte Version von Beiträgen der Autoren, die im vergangenen Jahr in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift publiziert wurden.

Im Namen des Herausgebergremiums wünschen wir Ihnen eine unterhaltsame und lehrreiche Lektüre.

Korrespondenzadresse

Dr. phil. G. Bischof

Universität zu Lübeck

Klinik für Psychiatrie und

Psychotherapie

Arbeitsgruppe S:TEP

(Substanzmissbrauch: Therapie,

Epidemiologie, Prävention)

Ratzeburger Alle 160

23538 Lübeck

Email: gallus.bischof@psychiatrie.uk-sh.de

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