Suchttherapie 2010; 11(4): 181-182
DOI: 10.1055/s-0030-1269774
Interview

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Entwicklungen der Suchtforschung und Suchttherapie

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Publication Date:
29 November 2010 (online)

Prof. Gerhard Bühringer leitet seit 1973 das Institut für Therapieforschung in München und ist seit 2005 Professor für Suchtforschung an der TU Dresden. Das folgende Interview fand am Rande des Deutschen Suchtkongresses vom 22.-25. September 2010 in Tübingen statt. Die Fragen stellte Gallus Bischof.

? Herr Bühringer, seit fast 40 Jahren haben Sie die Entwicklung der Suchtforschung und -behandlung in Deutschland mitverfolgt und mit begleitet. Welche Veränderungen konnten Sie in der psychotherapeutischen Behandlung Suchtkranker feststellen?

Wenn man diesen Zeitraum nimmt, gibt es in den letzten Jahre zwei wichtige Entwicklungen: Die eine – Frühinterventionen - ist Folge der Forschung in der Versorgung, die andere – störungsspezifische Behandlung – ist Thema der aktuellen Forschung.

Frühinterventionen: Die epidemiologischen Studien der 90er Jahre und die Studien zur Frühintervention in medizinischen Einrichtungen zu Personen, die noch keine Abhängigkeit entwickelt hatten, sondern einen schädlichen Gebrauch aufwiesen, haben zu einer Veränderung in der Versorgung geführt. Bevor es diese Erkenntnisse gab, sahen wir nur die schwer Abhängigen, die Interventionen waren zumeist stationär ausgerichtet und es war sehr schwer, Reformen einzuführen. Wir haben bereits 1975 mit ambulanten Behandlungen von Opiat- und Alkoholabhängigen begonnen und sind damit auf viel Unverständnis gestoßen, auch aus Sorge um die Finanzierung stationärer Einrichtungen. Da kamen immer ökonomische und fachliche Gründe zusammen.

Durch die Erkenntnis, dass es mehr Personen mit einem schädlichen Gebrauch bzw. Missbrauch als Abhängige gibt, dass es viele Personen gibt, die nicht in Behandlung kommen, hat sich das Verständnis von Behandlung bei Substanzstörungen bereits sehr verändert und muss sich auch noch viel weiter verändern. Das Ziel ist, möglichst früh Personen mit beginnenden Substanzstörungen zu erreichen. Die Therapie wird sich stärker in die Richtung verschiebenverschieben, Menschen früher zu erreichen und zu motivieren und weniger die schweren Folgen der Abhängigkeit zu beseitigen. Der Hauptteil ist dabei Motivationsfindung. Die Modellprojekte dazu in medizinischen Einrichtungen waren wichtig, aber wir müssen jetzt die Strukturen verändern, um dies in die Routineversorgung umzusetzen. Genauso wie in internistischen oder chirurgischen Stationen z.B. das Blutbild erhoben wird, muss der Alkoholkonsum routinemäßig erfasst werden. Die Instrumente dazu liegen vor. Es müssen aber die Leistungsanforderungen verändert und die Finanzierung gesichert werden.

Wenn wir Menschen früher erreichen, die noch nicht ausgprägte soziale Folgestörungen aufweisen, benötigen wir veränderte Versorgungsstrukturen. Nicht jeder benötigt dazu eine medizinische Rehabilitation. Viele Menschen, die wir früher erreichen, sehen sich nicht als Abhängige und möchten nicht in eine Suchtberatungsstelle. Die Suchtberatungsstellen müssen deshalb ihr Erscheinungsbild ändern. Das gilt z. B. auch für die Raucherentwöhnung. Wir dürfen nicht mehr so lange warten, bis die Leute zu uns in Behandlung kommen, sondern sollten ihnen Brücken bauen für eine subjektiv einfachere Inanspruchnahme von Leistungen.

Und eine solche Brücke könnte die Psychotherapie sein....

Genau, und neben der Veränderung der bestehenden Strukturen müssen wir neue Strukturen einbeziehen und eine solche Struktur könnten die Psychotherapeuten sein, die allerdings derzeit zumeist auch eine Menge Defizite in der Arbeit mit Substanzstörungen haben, z.B. in der Ausbildung. Indikationsgruppen könnten 1. Personen sein, bei denen die Abhängigkeit noch nicht zu schweren sozialen Folgeproblemen geführt hat, die noch in ihrem sozialen Rahmen leben, 2. Personen, die aus einer Reha kommen und komorbide Störungen haben, die dort nicht ausreichend behandelt werden konnten, oder auch 3. eine Parallelbehandlung zu einer ambulanten Reha. Damit nähern wir uns dem Stichwort integrierte Versorgung. Wir müssen stärker ein Case-Management betreiben, das die Versorgungsstrukturen steuert und damit im Einzelfall Doppelbehandlungen und unbetreute Rückfälle vermeidet.

? Gibt es dazu Daten, wieweit das derzeit überhaupt gelingt?

Es gibt Hinweise, dass das derzeit erst minimal gelingt. Das liegt wohl auch daran, dass auch Psychotherapeuten in diesem Zusammenhang aufgrund fachlichen Defizits noch kaum tätig sind. Es hat auch Abrechnungsgründe, da die Psychotherapierichtlinie bestimmte Leistungen untersagt: Ein Patient muss abstinent sein und damit fallen schon z.B. Substituierte oder Personen, die ihren Konsum erst beenden, per Definition weg, obwohl im BtmG Psychotherapie als eine mögliche Maßnahme genannt wird. Da widersprechen sich zwei Richtlinien. Ich muss also die ökonomischen Bedingungen ändern, die Kompetenzen bei den Psychotherapeuten und die Kooperation mit der Suchthilfe verbessern und die Indikationen müssen präzisiert werden. Für die integrierte Versorgung gibt es einige funktionierende Modelle der Kassen. Diese konzentrieren sich aber wieder auf Abhängige und es fehlt der Bereich der Frühintervention noch vollständig.

? Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten offenen Fragen für die Weiterentwicklung der Psychotherapie?

Ein wichtiges Forschungsthema der letzten Jahre ist der Versuch, Verhaltenstherapie durch stärkere Individualisierung weiterzuentwickeln. Da sind wir noch nicht sehr weitergekommen. Bei den heutigen amerikanisch geprägten Forschungsergebnissen spielt bislang Individualisierung kaum eine Rolle, es geht ihnen in der Forschung zumeist darum, welche Interventionen generell über- oder unterlegen sind. Ich bin da vom Forschungsziel her anderer Meinung. Als ich anfing mit therapeutischen Untersuchungen, haben wir das komplexe Störungsbild von Drogenabhängigen in einzelne Teile "zerlegt" und uns gefragt, was sind die Störungsmerkmale und die jeweiligen Ausprägungen einer Person. Wir hatten für jeden Patienten z.B. eine Übersicht mit 15-20 Störungsmerkmalen auf der Verhaltens- und kognitiven Ebene mit Ratings oder Punktewerten und wir haben alle 4 Wochen mit den Patienten geprüft, wo sie aktuell stehen. Wenn 80% der definierten Zielwerte erreicht waren, wurden sie entlassen. Wir haben damit Drogenabhängigen in deutlich kürzerer Zeit bei gleichem Erfolg stationär behandelt und so auch die Eingriffe in die Freiheit der Patienten reduziert: Damals waren ja noch Behandlungen von 12- 24 Monaten normal, bei uns wurden die Patienten nach etwa 3-6 Monaten entlassen. Das war ab 1973 einer der ersten systematischen Individualisierungsversuche. Die Verhaltenstherapie entwickelte sich dann in eine andere Richtung, zu eher standardisierten Interventionsprogrammen. Es wurden zwar gute Fortschritte erzielt, ich habe aber den Eindruck, dass es so nicht mehr weitergeht. Heute versuchen wir wieder störungsspezifische Aspekte durch präzisere Beobachtungen und Messungen individuell zu erfassen. Ein Beispiel ist die Forschung zu Art und Ausprägung von kognitiven Kontrollstörungen, die bereits erste praktische Auswirkungen zeigt, und möglicherweise die Behandlung von Substanzstörungen deutlich verändern wird.

? Sie haben jetzt zunächst die Erweiterungen der Zielgruppen für die Behandlung aufgrund von Erkenntnissen aus der Forschung angesprochen. Kommen wir zum zweiten Thema: störungsspezifische Behandlung...

Als ich ab 1973 mit Studien zur Verhaltenstherapie bei Abhängigen angefangen habe, wurden wir zumeist stark kritisiert; der Vorwurf "Rattenpsychologie" war nicht selten. Diese Beurteilung hat sich aber komplett geändert. Verhaltenstherapie spielt mittlerweile die dominierende Rolle bei der Behandlung von Substanzstörungen und in der Forschung. Vor 30-40 Jahren spielte auch Einzel- und Gruppentherapie in der stationären Behandlung keine Rolle, das lief nach den Prinzipien der Therapeutischen Gemeinschaft, da wurde überwiegend der "Alltag" in einer räumlichen Distanz zur Drogenszene praktiziert. Die verhaltenstherapeutische Forschung und die Standards der Rentenversicherungen haben das komplett verändert. Die Behandlung ist heute nicht mehr vergleichbar mit derjenigen vor 30 Jahren; damals war das konzeptionelle Denken überwiegend anders geprägt.

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