DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2011; 9(01): 37
DOI: 10.1055/s-0030-1270825
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Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Wer war eigentlich …

Peter Wührl
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Publication Date:
07 February 2011 (online)

… Abraham Flexner?

Eigentlich müssten wir 100 Jahre Flexner-Report feiern. Das passiert wahrscheinlich nicht, weil es Abraham Flexner (1866–1959) noch nicht in die Ahnengalerie der Osteopathie geschafft hat, obwohl er es sicherlich verdient hätte.

Verdient hätte er es aus meiner Sicht, weil Abraham Flexner der Osteopathie die größte Liebeserklärung gemacht hat, die ein Nicht-Osteopath machen kann. In seinem 1910 veröffentlichten, von der Carnegie Foundation in Auftrag gegebenen Bericht (über den Stand der medizinischen Ausbildung in den USA und Kanada) hat er die osteopathischen Colleges berücksichtigt und ihnen die Ehre einer genaueren Untersuchung zuteilwerden lassen. Wie auch andere medizinische Ausbildungsstätten wurden die US-amerikanischen osteopathischen Schulen auf den Prüfstand für weitere staatliche Subventionen und die Akkreditierung als medizinische Ausbildungsstätte gestellt. Kriterium war das universitäre Curriculum der Mediziner.

Der Bericht von Abraham Flexner, nach ihm kurz Flexner-Report genannt, war wenig schmeichelhaft für die Ausbildungen. Offenbar trafen jedoch seine Einschätzungen die Selbsteinschätzung einiger Osteopathen, denn einige seiner Verbesserungsvorschläge wurden in den nächsten Jahren umgesetzt. Wohlgemerkt, es ging nicht um die Frage der Berechtigung osteopathischer Medizin, sondern um die Qualität der Ausbildungen an den damals 8 US-amerikanischen osteopathischen Ausbildungsstätten.

In seinem Bericht hat Flexner nicht nur außerosteopathische Kriterien angelegt, sondern die Osteopathie auch an ihrem eigenen Anspruch gemessen und grundlegende Mängel der Ausbildung konstatiert: Theorielastigkeit der Anatomievorlesung, fehlende Kadaver und Laboreinrichtungen sowie der nicht erkennbare, ernsthafte Versuch, die Osteopathie als Wissenschaft zu entwickeln. Sein Bericht liest sich teilweise irritierend aktuell: Er nennt neben der mangelnden Qualifikation der Lehrer und nicht gestellten Mindestvoraussetzungen bei Studienbeginn ebenso die fragwürdige privatwirtschaftliche Finanzierung, die die Einnahmen in die Taschen der Schulleiter anstatt in die Infrastruktur fließen lässt, sowie den fehlenden Patientenkontakt in der klinischen Ausbildung.

In Flexners Bericht kommt allerdings die ärztliche Ausbildung zum Medical Doctor (MD) nicht viel besser weg. Flexner war engagierter Lehrer, experimentierte schon früh mit einer eigenen Grundschule und beschäftigte sich intensiv mit der Bedeutung der Universität in der Gesellschaft. Ironie der Geschichte oder Zufall: Der Maßstab, den Flexner an die Ausbildungsprogramme legte, war stark beeinflusst vom damaligen Modell der deutschen Medizin. Als Sohn in die USA immigrierter deutscher Juden sprach Flexner deutsch und studierte vor der Erstellung seines berühmten Flexner-Reports für kurze Zeit in Berlin und Heidelberg. 1930 war Flexner Gründungsdirektor des renommierten Institute of Advanced Studies in Princeton (New Jersey), an dem z. B. auch Einstein, Gödel und Pankofsky nach ihrer Emigration arbeiteten.

Stand also die frühe Osteopathie unter dem Einfluss eines deutschen Bildungs- und Universitätsmodells, in der die Behandlungsverantwortung auf der fürsorglich und paternalistisch eingefärbten Ebene der Arzt-Patient-Beziehung angesiedelt wurde? Indem der Arzt in Verantwortung für den Patienten entscheidet-und zwar auf der Grundlage des Stand der wissenschaftlichen medizinischen Erkenntnisse.

Falls wir uns mit fremdem Glanz schmücken wollen, wäre Abraham Flexner ein selbstkritischer Anlass dafür.