Handchir Mikrochir Plast Chir 2011; 43(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0030-1271775
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Quo vadis Handchirurgie?

Hand Surgery: Quo vadis?
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Publication Date:
14 February 2011 (online)

K.-J. Prommersberger

Die vorliegende Ausgabe der Handchirurgie Mikrochirurgie Plastische Chirurgie enthält 3 Arbeiten, die auf den ersten Blick nichts gemein haben und doch in der Zusammenschau ein Bild von der Lage der Handchirurgie in Deutschland ergeben.

Lotter und Mitarb. [1] haben die Entwicklung der Vergütung stationärer Behandlungsfälle in der Handchirurgie seit Einführung des DRG-Systems (Diagnosis Related Groups) im Jahre 2004–2009 anhand des Patientengutes der Klinik für Hand-, Plastische, Rekonstruktive und Verbrennungschirurgie der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen analysiert. Sie stellten dabei fest, dass der Basisfallwert 2009 (2 917,18 €) im Vergleich zu 2008 zwar um 6,8% gestiegen war, aber um fast 9,2% niedriger lag als 2004 (3 211,36 €). Gleiches fanden sie für den Zahl-Basisfallwert, dem unter Berücksichtigung von Erlösausgleichen tatsächlich einer Klinik gezahlten Fallwert. Lediglich der Z-Bax, der neben den gewichteten Zahl-Basisfallwerten alle relevanten Zu- und Abschlagstatbestände, so z. B. die Ausbildungsfinanzierung für Zentren und Schwerpunkte, Sanierungsabschläge usw., umfasst, war zwischen 2004 (2 740,00 €) und 2009 (2 946,00 €) für die Tübinger Klinik gestiegen. Angesichts einer kumulativen Inflationsrate von über 8% im Beobachtungszeitung sehen die Autoren einen massiven Erlösverlust und befürchten insbesondere angesichts steigender Personalkosten, dass mittel- bis langfristig notwendige Krankenhausinvestitionen nicht getätigt werden können. Dies umso mehr als sich die mittlere und obere Grenzverweildauer stationär behandelter handchirurgischer Patienten zwischen 2004 und 2009 für die meisten Fälle verkürzte bei gleichbleibender unterer Grenzverweildauer und sich somit die Chance der Erwirtschaftung eines Gewinnes durch Unterschreiten der mittleren Grenzverweildauer reduzierte.

Nun erzählt man uns seit Jahren seitens des InEks (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus), dass man dort die realen Kosten einer stationären Behandlung sehr exakt berechnen könne und die jeweiligen Fallpauschalen letztlich nur unsere Eingaben widerspiegeln würden. Wir glauben dies auch gerne. Mag auch sein, dass es sich rächt, dass anfangs nur wenige handchirurgische Kliniken für die Kostenkalkulation Eingaben beim InEK machten. Nur was nutzt uns das? – überlegt sich doch mancher Geschäftsführer sicher bereits, ob er nicht „seine” Handchirurgie lieber in eine Abteilung mit einem höheren Casemix-Index integriert, um so die Erlössituation dem Aufsichtsrat gegenüber in einem anderen Licht erscheinen zu lassen und gleichzeitig vielleicht noch das Gehalt des Chefarztes der Handchirurgie einzusparen.

Gerade weil anfänglich nur wenige handchirurgische Kliniken für die Kostenkalkulation beim InEK Eingaben machten und selbst heute noch kaum eine Klinik wirklich in der Lage ist, die Kosten eines stationär erbrachten Eingriffs 100%ig korrekt zu beziffern, andererseits aber mit jedem Jahr die Erlössituation für die verschiedenen Fallgruppen immer stärker festgesurrt wird, ist es wichtig, dass möglichst viele Kliniken, große und kleine, an der Kostenkalkulation teilnehmen, damit die Versorgungswirklichkeit möglichst realistisch abgebildet wird und somit eine faire Vergütung erfolgt. Wenn nur hochspezialisierte Kliniken an der Kostenkalkulation teilnehmen, bei denen z. B. die Aufenthaltsdauer für eine Handwurzelteilversteifung bei durchschnittlich 4 Tagen und die OP-Zeit bei weniger als 90 min liegt, sieht die Kostenkalkulation anders aus, als wenn auch Kliniken teilnehmen, in denen die Aufenthaltsdauer vielleicht bei durchschnittlich 6 Tagen und die OP-Dauer vielleicht bei 120 min liegt.

Welche Auswirkungen solche wie oben aufgeführte, aufgrund der kritischen Erlössituation denkbare Entwicklungen handchirurgischer Abteilungen auf die Versorgung von Verletzungen und Erkrankungen der Hand haben könnten, lässt der Beitrag von Peter Brüser über „Behandlungsfehler in der Handchirurgie” erahnen [2]. Im Zeitraum von 2004 bis 2008 wurden 7 053 Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein geltend gemacht. 446 davon betrafen Erkrankungen und Verletzungen der Hand einschließlich Frakturen des distalen Unterarmes. Während allgemein in 31,1% der Fälle ein Behandlungsfehler bejaht wurde, lag die Quote anerkannter Behandlungsfehler bei Eingriffen an der Hand und am distalen Unterarm mit 41,5% signifikant höher. Hierbei war die Rate anerkannter Diagnosefehler mit 57,3% prozentual zwar gegenüber den eigentlichen Behandlungsfehlern mit 38,2% führend, blieb jedoch zahlenmäßig mit 47 gegenüber 139 anerkannten Fällen deutlich zurück. Die meisten Behandlungsfehlervorwürfe (101) betrafen Frakturen des distalen Unterarmes, wobei in 45,5% ein Behandlungsfehler bejaht wurde. Eine höhere Anerkennungsrate fand sich lediglich bei den beanstandeten 99 Weichteilverletzungen mit 51,6%.

Die Behandlungsfehlervorwürfe richteten sich gegen insgesamt 502 Ärzte. 30 Ärzte waren nicht chirurgisch tätig. Von den 472 chirurgisch tätigen Ärzten (Allgemeinchirurgen, Neurochirurgen, Orthopäden, Plastische Chirurgen und Unfallchirurgen) besaßen 131 die Zusatz-Weiterbildung (ZW) Handchirurgie. Von den Behandlungsfehlervorwürfen gegen chirurgisch tätige Ärzte ohne ZW wurden 44,0% anerkannt, Vorwürfe gegen Ärzte mit ZW in 26,0%. Am gravierendsten war die Differenz anerkannter Behandlungsfehler zwischen chirurgisch tätigen Ärzten mit und ohne ZW bei Fehlbehandlungsvorwürfen Weichteilverletzungen (ohne Sehnen) (14,0 vs. 51,3%) und Fingerfrakturen (14,3 vs. 52%) betreffend.

Zweifelsohne kann man entsprechend des eigenen Blickwinkels an der Arbeit Kritik äußern. So mögen Unfallchirurgen ohne ZW ins Feld führen, dass die Anzahl der von ihnen behandelten Fingerfrakturen um ein Vielfaches die Zahl jener Fingerfakturen übersteigt, die von chirurgisch tätigen Ärzten mit ZW Handchirurgie behandelt werden. Angesichts des Umstandes, dass nur in einem geringen Prozentsatz ein Behandlungsfehlervorwurf erhoben wird, ergibt sich, da nicht bekannt ist, wie viele Fingerfrakturen von Ärzten mit und ohne ZW behandelt werden, leicht ein falsches Bild. Aus meiner Sicht ist im Wesentlichen der undifferenzierte Umgang mit dem Begriff „Handchirurgie” zu kritisieren. Unter einem interdisziplinären Fach verstehe ich ein Fach, in dem verschiedene Disziplinen bei der Behandlung einer Erkrankung eines Patienten zusammenarbeiten. Bestes Beispiel ist die Onkologie. Eingriffe an der Hand werden zwar von Ärzten verschiedener Fachdisziplinen ausgeführt, niemals jedoch zur gleichen Zeit am gleichen Patienten zur Behandlung eines Problems. Die Handchirurgie ist also kein interdisziplinäres Fach. Ungeachtet all dessen, belegt die Arbeit mit beeindruckenden Daten den Wert einer handchirurgischen Ausbildung oder um es mit anderen Worten zu sagen, Operieren an der Hand ist nicht gleich Handchirurgie. Es gehört mehr dazu als an der Hand zu operieren, um Handchirurg zu sein. Vielleicht sollte man bei der Bundesärztekammer angesichts dieser Daten doch nochmal darüber nachdenken, ob nicht doch ein Facharzt Handchirurgie angebracht ist.

Wenn ich gerade einmal mehr den Facharzt für Handchirurgie gefordert habe, so muss man nach Lesen der Arbeit von Schädel-Höpfner und Mitarb. [3] vielleicht sogar noch weitergehen und die Einrichtung von Schwerpunkten wie Handgelenkschirurgie, Kinderhandchirurgie usw. fordern. Schädel-Höpfner und Mitarb. haben eine Umfrage unter deutschen handchirurgischen Experten gemacht, um zu ermitteln, zu welchen handchirurgischen Themen bevorzugt systematische Literaturanalysen erfolgen sollten, um so das jeweils vorhandene evidenzbasierte Wissen als Entscheidungsgrundlage für eine adäquate Diagnostik und Therapie zusammenzufassen bzw. aufzuzeigen, welchen Themengebieten der Handchirurgie sich die klinische und experimentelle Forschung bevorzugt zu wenden sollte. Nicht mitgeteilt wurde, wie die Autoren die 30 handchirurgischen „Experten” auswählten. 24 Themen wurden vorgegeben. Es bestand jedoch die Möglichkeit weitere Themen zu benennen.

Der größte Informationsbedarf scheint bzgl. Verletzungen der Handwurzel und ihrer Folgen zu bestehen. Die ersten 8 Plätze der erstellten Rangliste sind mit entsprechenden Themen belegt, allen voran der skapholunäre Bandschaden, gefolgt von der Lunatumnekrose und der Skaphoidpseudarthrose. Erst ab Platz 9 finden sich Themen wie Beugesehnenrekonstruktion, Sulcus-ulnaris-Syndrom und Nerventransplantation. Weit hinten auf der Rangliste findet man Themen wie motorische Ersatzoperationen und Nachbehandlung nach Replantation.

Mag sein, dass die Rangliste weniger das Informationsbedürfnis der befragten Handchirurgen widerspiegelt, als Ausdruck davon ist, dass das Handgelenk gerade in „Mode” ist. Mag auch sein, dass durch die Auswahl der beteiligten handchirurgischen Experten ein gewisser Bias vorliegt. Andererseits ist in der eigenen Klinik seit längerem bereits festzustellen, dass gerade unter den Leistungsträgern zunehmend eine Tendenz zur Fokussierung auf spezifische Themen besteht. Eine Beobachtung, die man auch international macht. Dabei werden die jeweiligen Themen nicht nur „wissenschaftlich” besetzt, sondern man setzt sich auch ganz bewusst im Rahmen seiner klinischen Tätigkeit gezielt mit dem jeweiligen Thema auseinander. Aus der Symbiose der hohen wissenschaftlichen Kompetenz und der enormen klinischen Erfahrung aus einer hohen Zahl behandelter Fälle resultiert ein handchirurgischer Subspezialist. Nicht dass damit die allgemeine handchirurgische Kompetenz verlorenginge. Aber wer bitte möchte von sich behaupten, dass er auf allen Feldern der Handchirurgie von den kindlichen Fehlbildungen, über die Nerven- und Sehnenrekonstruktion bis hin zur Chirurgie der Handwurzel die gesamte Literatur parat hat und in der Lage ist, mit gleich hoher Qualität eine komplexe intraartikuläre Radiusfraktur, eine Löffelhand und eine Sehnenrekonstruktion nach Beugesehnenscheiden- und Hohlhandphlegmone zu operieren?

Wir sind an einem Punkt angelangt, den es eigentlich – aus vielerlei Gründen – gar nicht geben dürfte: Das DRG-System bedroht die Existenz handchirurgischer Abteilungen und damit den Handchirurgen als solchen. Längst haben sich innerhalb der Handchirurgie Schwerpunkte ausgebildet. Und dies alles obwohl (oder weil?) es den Facharzt Handchirurgie nicht gibt. Quo vadis deutsche Handchirurgie?

Literatur

  • 1 Lotter1  O, Stahl1  S, Nyszkiewicz1  R. et al . Entwicklung der Vergütung von DRG-Fällen in der Handchirurgie.  Handchir Mikrochir Plast Chir. 2011;  43 3-8
  • 2 Brüser P. Behandlungsfehler in der Handchirurgie. Ein Vergleich zwischen handchirurgischen Ausbildungskriterien chirurgischer Fachgebiete und der Zusatz-Weiterbildung anhand der Behandlungsfehlerstatistik der Ärztekammer Nordrhein.  Handchir Mikrochir Plast Chir. 2011;  43 9-14
  • 3 Schädel-Höpfner M, Diener MK, Eisenschenk A. et al . Themenpriorisierung für systematische Literaturanalysen in der Handchirurgie.  Handchir Mikrochir Plast Chir. 2011;  43 15-19

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Karl-Josef Prommersberger

Klinik für Handchirurgie der

Herz- und Gefäß-Klinik GmbH

Salzburger Leite 1

97616 Bad Neustadt / Saale

Email: hael@handchirurgie.de

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