Allgemeine Homöopathische Zeitung 2013; 258(1): 16-17
DOI: 10.1055/s-0032-1314730
Spektrum
© Karl F. Haug Verlag MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Interview mit Herrn Dr. med. Klaus-Henning Gypser

Klaus-Henning Gypser
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Publication Date:
11 March 2013 (online)

AHZ: Sehr geehrter Herr Dr. Gypser, mittlerweile liegen einige beeindruckende Publikationen Ihres Projekts „Materia Medica Revisa Homoeopathiae“ (MMRH) vor. Welche Ziele verfolgt Ihr Forschungsprojekt?

Herr Dr. Gypser: Es soll all dasjenige, was die Homöopathie seit Anbeginn bis zur Gegenwart an primärem Materia-medica-Wissen international hervorgebracht hat, in einem Werk zur Nutzung für den Praktiker gesammelt und übersichtlich geordnet werden. Dergleichen schien bereits Hering 1844 erforderlich und ist es denn heute umso mehr. Wozu dienen alle verstreut publizierten Arzneiprüfungen und klinischen Erfahrungen, wenn sie in der Praxis nicht verfügbar sind?

Wie ist es zu diesem Forschungsprojekt gekommen?

Durch den Einfluss eines meiner Lehrer, Herrn Dr. Georg von Keller, entwickelte sich eine Vertrautheit mit der Entstehungsweise seiner „Symptomensammlungen homöopathischer Arzneimittel“. Im Zuge dessen sprach er auch die Aufforderung aus, mit dem von ihm Begonnenen fortzufahren. 1982 wurde mit der Auflistung aller erschienen homöopathischen Zeitschriften begonnen, die mit jeweils 3 Siglen versehen 1984 unter dem Titel „Bibliotheca homoeopathica“ als eine Voraussetzung der MMRH erschienen ist. Parallel wurden eine die Primärquellen enthaltende homöopathische Bibliothek aufgebaut, die Struktur der MMRH erarbeitet und Probeläufe mit ausgewählten Mitteln gestartet. Nachdem sich das Konzept als ausgereift erwiesen hatte, erging etwa im Jahr 2000 an Kollegen die Bitte um Mitarbeit. Ab 2007 kam es zur Veröffentlichung der ersten Bände.

Wie gehen Sie bei der Revision vor? Wie wird eine Arznei in Ihrem Team bearbeitet?

Die im Land verstreuten Mitarbeiter wählen sich ein Mittel aus. Dann werden für dieses in der Bibliothek der „Gleeser Akademie homöopathischer Ärzte“ durch andere Mitarbeiter nach einem festgelegten Schema die Literaturquellen, d. h. Prüfungen und Kasuistiken, herausgesucht und kopiert. Diese Unterlagen erhält der jeweilige Mitarbeiter und gibt die Symptome in ein eigens geschriebenes Programm ein, wobei er durch ein Handbuch angeleitet wird. Nach Fertigstellung liest der Bearbeiter Korrektur, anschließend ein Kokorrektor und letztlich noch der Herausgeber. Danach erfolgt die Drucklegung. Entstehende Schwierigkeiten werden in der Gruppe erörtert.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie bisher aus dem Forschungsvorhaben gezogen haben?

Der Kollegenschaft steht nun etwa das Dreifache an Symptomen eines jeden Mittels gegenüber bisher zur Verfügung. Von besonderer Bedeutung ist durch die Kenntlichmachung klinischer Symptome mittels eckiger Klammern, dass der Anwender sich nun nicht mehr auf die unzähligen täuschenden Angaben im Kent’schen Repertorium und seiner Abkömmlinge verlassen muss und damit nicht selten Fehlverordnungen riskiert, sondern nun nachprüfen kann, ob ein Symptom lediglich klinischen Ursprungs ist, und dann entscheiden, ob er unter diesen Umständen die Herstellung einer hinreichenden Ähnlichkeitsbeziehung für gewährleistet hält.

Zur Erinnerung: Hahnemann führte die Arzneimittelprüfung als notwendige Voraussetzung einer homöopathischen Heilung ein, und zwar deshalb, weil ihm die Beobachtungen an Kranken zu ungenau für die Erstellung einer verlässlichen Materia medica erschienen. Er wollte nämlich nicht wie die Alte Schule zufällige Heilerfolge erzielen, sondern im Einzelfall das kurative Mittel sicher im Voraus bestimmen. In der Fußnote zu ORG § 67 äußert er deutlich, dass manche mittleren oder kleineren Symptome gewissermaßen auch von selbst vergehen, wenn nur die größeren, charakteristischen in einer Ähnlichkeitsbeziehung zum Mittel stehen. Nimmt man dann diese mittleren oder kleineren Symptome als von diesem Mittel vermeintlich geheilte unterscheidungslos in die Materia medica auf, resultieren zwangsläufig Fehlverordnungen, wenn man sie bei anderen Fällen heranzieht und in eine Ähnlichkeitsbeziehung setzt. Das führt nicht nur zur Zerstörung der Materia medica, sondern auch zur Verwunderung des Verordners, der doch allem Anschein nach methodisch korrekt vorgegangen ist. Allein, er hat es versäumt, sich in einer Primärquellen-Materia-medica davon zu überzeugen, dass tatsächlich eine Ähnlichkeitsbeziehung zu Prüfungssymptomen besteht – ein Mittelfindungsweg, der offensichtlich nicht mehr genügend gelehrt wird. Natürlich soll hier den klinischen Symptomen nicht jeder Wert abgesprochen werden: Bei häufigem Vorkommen mögen sie einem Prüfungssymptom gleichkommen, und hinsichtlich der Festlegung der Polarität sind sie von großem Wert.

Teamarbeit spielt bei der MMRH eine große Rolle, sonst nicht immer eine Stärke von Homöopathen. Wie klappt das bei Ihnen?

Seit vielen Jahren außerordentlich zufriedenstellend. Vielleicht liegt es daran, dass auch hier ein Probelauf unternommen wurde, nämlich von 1996–1999 in Form der Revision des „Therapeutischen Taschenbuchs“. Hier sind 5 Mitwirkende einmal pro Woche im Hause des Herausgebers zusammengekommen, um jede Rubrik des Taschenbuchs zu erörtern. Diese Zusammenarbeit hat ganz ausgezeichnet funktioniert, zumal alle entstehenden Probleme so lange erörtert wurden, bis sich eine einhellige Lösung gefunden hat. Erst danach wurde gewagt, das MMRH-Projekt auf ungleich größerer Basis zu beginnen, nachdem auch die jahrelangen Vorarbeiten erfolgreich abgeschlossen waren.

Wie beurteilen Sie, ob ein Symptom als Prüfungssymptom oder klinisch verifiziertes Symptom aufgenommen werden darf?

Prüfungssymptome werden alle aufgenommen, es sei denn, aus dem Symptomenwortlaut wird ein Irrtum ersichtlich, also etwa Samenerguss bei einer Frau. Dann entfällt das Symptom. Erfundene Arzneiprüfungen, wie etwa die des Schwindlers Fickel zu Hahnemanns Zeit, entfallen selbstverständlich ebenso. Klinisch verifizierte Symptome werden gar nicht aufgenommen, denn die Verifikation ergibt sich von selbst, wenn man das als solches kenntlich gemachte klinische Symptom betrachtet. Bei einem dem Prüfungssymptom sehr ähnlichen Wortlaut folgt es diesem in der nächsten Zeile, sodass der Umstand der Verifikation unmittelbar ersichtlich ist.

Sie planen, zum Abschluss des Projekts aus den Daten ein Repertorium zu erstellen. Können Sie uns hierzu schon mehr sagen?

Das Repertorium wächst bereits parallel zu den Monografien. Es wird so aufgebaut sein, dass sich nach verschiedenen Methoden – Kent, Bönninghausen und Boger – repertorisieren lässt. Die Gradeinteilung wird einer klar vorgegebenen Definition folgen, sodass der Anwender sofort sieht, was sich hinter einem Mitteleintrag verbirgt. Großer Wert wird auf die Bereinigung von Synonyma gelegt, sodass man nicht mehr den gleichen Sachverhalt unter verschiedenen Begriffen suchen muss. Jeder Eintrag wird sich in den zugrundeliegenden MMRH-Monografien nachweisen lassen, sodass alle bisherigen Unsicherheiten bei der Benutzung von Repertorien behoben sind.

Wie kann die homöopathische Community die Arbeit Ihres Teams unterstützen?

Wer ernsthaft interessiert ist und die erheblichen Mühen nicht scheut, ist zur Mitarbeit eingeladen. Wer die Monografien in seiner Praxis sowie zum Mittelstudium nutzt, gelangt nicht nur zu einer größeren Verordnungssicherheit, sondern trägt auch mit Kauf des Werkes über den Mittelrückfluss zu dessen Fortführung bei. Das MMRH-Team sieht die Revisionsarbeit als Aufgabe der deutschsprachigen Homöopathie. Daher wäre es zu begrüßen, wenn Letztere diese Arbeit in breiterem Umfang zur ihrer Sache machen würde: Denn schließlich dient sie als Basis der Materia medica allen.

Herr Dr. Gypser, wir danken Ihnen für das Interview!

Das Interview führte Michael Teut.