Psychother Psychosom Med Psychol 2012; 62(09/10): 333-334
DOI: 10.1055/s-0032-1327194
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mitbetroffen – Angehörige akut und chronisch Erkrankter

Also Involved – Relatives of Acutely and Chronically Ill Patients
Gabriele Wilz
1   Institut für Psychologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena
,
Elmar Brähler
2   Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig
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01 October 2012 (online)

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Prof. Dr. Gabriele Wilz
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Prof. Dr. Elmar Brähler

„… the family constitutes perhaps the most important social context within illness occurs and is resolved. It consequently serves as a primary unit in health and medical care.“ ([1], S. 495)

Wie das oben aufgeführte Zitat verdeutlicht, nehmen Angehörige eine zentrale Bedeutung hinsichtlich der Entstehung und insbesondere Bewältigung von Erkrankungen ein. Entsprechend zeigt der internationale Forschungsstand, dass soziale Unterstützung einen bedeutsamen Einfluss auf die Entstehung, Auslösung und den Verlauf psychischer und somatischer Erkrankungen hat [2] [3]. So beeinflusst die Funktionsfähigkeit der Familie und die Einbindung der Angehörigen in den Behandlungsprozess maßgeblich die Compliance sowie insgesamt die Krankheitsverarbeitung und Lebensqualität der Patienten [4] [5].

Aus der komplexen Situation der Angehörigen, in der neue praktische Anforderungen im Alltag und Veränderungen der erkrankten Person zu bewältigen sind, resultiert meist eine Vielzahl von Belastungen. So stellt die Versorgung des erkrankten Menschen nicht nur besondere Anforderungen an die Organisation und Gestaltung des Alltags und verlangt die Aneignung neuer Fertigkeiten für die Unterstützung und Pflege des erkrankten Menschen. Die Angehörigen müssen darüber hinaus psychische Anpassungsleistungen erbringen, um die Veränderungen durch eine akute oder chronische Erkrankung bei einem nahestehenden Menschen wahrzunehmen, zu akzeptieren, in die Beziehung zu integrieren und damit umgehen zu lernen.

Entsprechend zeigt eine Metaanalyse mit 84 einbezogenen Studien von Pinquart und Sörensen [6], dass pflegende Angehörige im Vergleich zu Nichtpflegenden größere Depressivität, größeren Stress, geringeres Wohlbefinden und geringere Selbstwirksamkeitserwartungen aufwiesen. In einigen Studien wurde sogar eine höhere psychische Belastung bei Angehörigen im Vergleich zu den betroffenen Patienten berichtet [7] [8]. Mellon et al. [9] stellte bei Angehörigen von Tumorpatienten fest, dass diese sogar stärkere Zukunftsängste, geringere emotionale Unterstützung, niedrigere Lebensqualität und stärkere Belastungen als die Betroffenen erlebten. Besonders stark ausgeprägt sind die gesundheitlichen Belastungen bei pflegenden Angehörigen von Demenzerkrankten [10] [11]. Neben erhöhten Morbiditäts- [6] und Mortalitätsraten [12] wurde eine deutlich stärkere Beeinträchtigung der psychischen und körperlichen Gesundheit als bei gesunden Vergleichpopulationen oder pflegenden Angehörigen anderer chronisch Erkrankter festgestellt [13].

Bei der Betrachtung der Belastungen der Angehörigen wurden jedoch bisher einige relevante Aspekte wenig berücksichtigt. So wurden beispielsweise Angstsymptome der Angehörigen kaum beachtet und auch interaktionelle Auswirkungen sowie das dyadische Coping wurden selten in die wissenschaftliche Betrachtung einbezogen. Korrespondierend sind in den vorliegenden Interventionsstudien zur Unterstützung von Angehörigen interaktionelle und dyadische Ansätze sowie therapeutische Strategien zur Behandlung von Angstsymptomen meist nicht integriert. Insgesamt legen die existierenden Interventionsansätze für Angehörige den Schwerpunkt auf Psychoedukation, Problemlöseansätze und Unterstützung in Stressmanagement und Selbstfürsorgetechniken.

In der Zusammenstellung der Beiträge dieses Sonderhefts werden die genannten bisher wenig berücksichtigten Themen aufgegriffen und bei Angehörigen von Menschen mit unterschiedlichen akuten und chronischen Erkrankungen betrachtet.

In den Arbeiten von Balck u. Dinkel, Zimmermann et al. und Jaenichen et al. werden Angstsymptome der Angehörigen fokussiert. Die Untersuchung von Balck u. Dinkel [14] zeigt, dass Partner von Patienten, die eine akute Hirnschädigung erlitten haben, insbesondere durch Angstsymptome beeinträchtigt sind. Auch in der Studie von Zimmermann et al. [15] berichteten nicht nur die Patienten Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung, sondern auch deren Angehörige. Als relevante Pradiktoren der Progredienzangst konnten die Anzahl der Arztbesuche des Patienten, das Vermeidungsverhalten des Partners sowie das eigene dyadische Coping und das dyadische Coping des Partners identifiziert werden. Ebenfalls die Bedeutung dyadischer Faktoren betrachtet die Arbeit von Jaenichen et al. [16] bei Angehörigen kritisch kranker und intensivmedizinisch behandlungsbedürftiger Patienten nach schwerer Sepsis. Im Ergebnis zeigten sich starke dyadische Zusammenhänge zwischen Patienten und deren (Ehe-)Partnern hinsichtlich körperlicher und psychischer Beschwerden sowie der Lebensqualität.

In den vier dargestellten Interventionsstudien bei Angehörigen von Menschen mit sehr unterschiedlichen Erkrankungen werden zum einen interaktionelle Aspekte und zum anderen die Bedeutung psychischer Belastung durch Ängste und Verluste verdeutlicht. So liegt in dem Beitrag von Zitarosa et al. [17] der therapeutische Fokus der Angehörigenintervention bei Essstörungen auf den aufrechterhaltenden interaktionellen Faktoren, da häufig dysfunktionale Teufelskreise im Interaktionsverhalten beobachtet werden können, welche die Erkrankung aufrechterhalten. In dem Beitrag von Buchner et al. [18] wird ein psychoedukatives Entlastungstraining ETAPPE als manualisiertes Gruppenangebot für Angehörige von Menschen mit pathologischer Glücksspielsucht vorgestellt. Als ein interessantes Ergebnis zeigte sich auch in dieser Studie, dass insbesondere Themen zur Beziehung, zu Ängsten und Zukunftssorgen häufig genannt wurden und durch die Intervention nicht ausreichend bearbeitet werden konnten.

In der TIPS-Studie (Telefongestützte Intervention für Pflegende Angehörige von Schlaganfall-Betroffenen) von Beische et al. [19] wird ein spezifischer Problemlöseansatz für pflegende Angehörige von Schlaganfallpatienten vorgestellt. Die Autoren berichten, dass durch die Bearbeitung von Alltagsproblemen wirkungsvolle Verbesserungen der Pflegebelastung erreicht werden konnten, jedoch Belastungen, die als wenig kontrollierbar empfunden wurden und ein eher emotionsfokussiertes Coping erfordert hätten (z. B. Ängste den Pflegebedürftigen zu verlieren) dagegen vergleichsweise selten in der Intervention aufgegriffen wurden. Eine Kombination des Problemlöseansatzes mit emotionsfokussierten und Akzeptanz fördernden Strategien wird daher von Beische et al. empfohlen.

In der Studie von Wilz u. Kalytta [20] wird ein gruppentherapeutisches Unterstützungskonzept für Angehörige von Demenzerkrankten evaluiert. In diesem Ansatz wird untersucht, ob kognitiv-behaviorale psychotherapeutische Interventionen für pflegende Angehörige von Demenzkranken als wirksame Strategien bewertet werden können. Im Ergebnis konnten langfristig mittlere Effekte auf Angstsymptome und depressive Symptome sowie eine verzögerte Institutionalisierungsrate in der Interventionsgruppe nachgewiesen werden.

Die Studie von Oliva y Hausmann et al. [21] widmet sich der wichtigen Thematik, welche Faktoren den Transfer von der häuslichen in die stationäre Pflege bei pflegenden Angehörigen von Demenzerkrankten beeinflussen. Die Ergebnisse zeigten, dass sehr unterschiedliche Prädiktoren, in spezifischer Kombination sowie auch individuelle Bewertungen der Angehörigen eine wichtige Rolle spielen. Diese Arbeit verdeutlicht, dass adäquate Unterstützungskonzepte für pflegende Angehörige insbesondere auch die individuelle Lebenssituation und Bewertungen der Angehörigen berücksichtigen sollten.

Zusammenfassend zeigen die vorliegenden Arbeiten, dass psychosoziale und gesundheitliche Belastungen bei Angehörigen von Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen vorliegen und hierbei Angstsymptome und interaktionelle Veränderungen und Probleme zu den relevanten Beeinträchtigungen zählen. Diese sollten zunehmend in der Entwicklung von Unterstützungskonzepten berücksichtigt werden. Weiterhin unterstützen die Studienergebnisse existierende Befunde, dass individuelle Ansätze und kognitive Interventionen adäquate Unterstützung bieten können [22]. Die Befunde unterstreichen den Bedarf an adäquaten Interventionen für Angehörige akut und chronisch Erkrankter. Zudem wird deutlich, dass das Potenzial an evidenzbasierten psychotherapeutischen Interventionen, insbesondere der Einsatz von Verfahren wie dyadischen Interventionsansätzen [23] und emotionsorientierten [24] sowie akzeptanzfördernden [25] Interventionen bisher zur Entlastung pflegender Angehöriger zu wenig ausgeschöpft wird.

 
  • Literatur

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  • 20 Wilz G, Kalytta T. Evaluation eines kognitiv-behavioralen Gruppenkonzepts für pflegende Angehörige von Demenzerkrankten. Psychother Psych Med 2012; 62: 359-366
  • 21 Oliva y Hausmann A, Schacke C, Zank S. Pflegende Angehörige von demenziell Erkrankten: Welche Faktoren beeinflussen den Transfer von der häuslichen in die stationäre Pflege?. Psychother Psych Med 2012; 62: 367-374
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