Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82(1): 54-55
DOI: 10.1055/s-0033-1356392
Leserbrief
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

78% der Schlaganfälle werden auf 534 Stroke Units behandelt – (noch?) eine Fiktion!

78% of Stroke Patients Treated on 534 Stroke Units – (Still?) Fiction!
J. Eyding
1   Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus Bochum
,
M. Kitzrow
2   Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Berufsgenossenschaftliche Kliniken Bergmannsheil, Bochum
,
C. Krogias
3   Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum St. Josef-Hospital Bochum
,
P. Müller-Barna
4   Klinik für Neurologie und Neurologische Intensivmedizin, Klinikum Harlaching, Städtisches Klinikum München
,
R. Weber
5   Klinik für Neurologie, Alfried Krupp Krankenhaus Essen
,
D. Bartig
6   drg market, Marktanalysen, Osnabrück
› Author Affiliations
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Publication History

20 November 2013

15 December 2013

Publication Date:
20 January 2014 (online)

Sehr geehrte Herausgeber,

mit großem Interesse haben wir den Beitrag von Scholten et al. in Heft 10 der „Fortschritte der Neurologie Psychiatrie“ zu den Thrombolyseraten des akuten Schlaganfalls 2010 in Deutschland gelesen [1]. Nach Analyse von Sekundärdaten aus den strukturierten Qualitätsberichten (sQB) kommen die Autoren zu dem Schluss, dass 78 % der ca. 198 500 ischämischen Schlaganfälle auf Stroke Units behandelt wurden und die durchschnittliche Thrombolyserate der neurologischen Fachabteilungen bei 9,1 % bei einer Schwankung von 0 – 38 % lag. Einflussfaktoren auf die Thrombolyserate seien dabei die Anzahl der behandelten Schlaganfälle sowie das Vorhandensein einer Stroke Unit gewesen. Diese Analysen sind von hohem Interesse, da sie nicht zuletzt ein wichtiges Argument in der Versorgungsplanung darstellen. Daher sollten sie einer kritischen Methodenprüfung standhalten.

Unter einer ähnlichen Fragstellung hatte unsere Arbeitsgruppe Daten zur Versorgungsrealität von Schlaganfallpatienten im Ruhrgebiet 2010 analysiert [2]. Hierbei wählten wir den methodischen Ansatz, dass wir ergänzend zu den sQBs auch die DRG-Statistiken aus 2008/2010 heranzogen und dadurch u. a. Aggregationen der Fallzahlen für Inzidenzen, Stroke-Unit-Behandlung und Lysetherapie berechneten. Wir sind der Meinung, dass anders eine sinnvolle Analyse nicht möglich ist. Die Fokussierung der Analyse auf die Daten der sQB kann methodisch bedingt einen erheblichen Bias beinhalten und zu Fehlinterpretationen führen.

In der DRG-Statistik für das Jahr 2010 sind 229 798 Fälle für die Hauptdiagnose I63 ausgewiesen. Davon entfallen 211,8 Tsd. Fälle auf die Fachabteilungen (FA) Innere, Geriatrie, Neurologie oder Intensivmedizin. Behandlungsfälle von Krankenhäusern, die nach Bundespflegesatzverordnung abrechnen, sind hier nicht enthalten. Die Grundgesamtheit, die in der vorliegenden Arbeit mit 198,5 Tsd. Fällen in 1302 Krankenhäusern angegeben wird, erscheint uns daher zu niedrig. Ein Teil dieser Differenz mag sich dadurch erklären, dass in den sQB die Hauptdiagnose auf die entlassende FA geschlüsselt wird, während in der DRG-Statistik die Hauptdiagnose auf Basis der FA mit der längsten Verweildauer für diesen Fall ausgewiesen wird. Eine weitere Fehlerquelle der sQB können fehlende (Uniklinik Rostock, http://www.kliniken.de/kliniksuche/kliniken.jsp) oder auch doppelt angelegte Datensätze sein (z. B. Kliniken Siegburg, Schwerin, Lippe). Hier fehlen entsprechende quantitative Angaben in der Publikation.

Nach Angaben der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG; http://www.dsg-info.de/stroke-units/stroke-units-uebersicht.html) sind aktuell ca. 250 Stroke Units zertifiziert. In der vorliegenden Arbeit geben die Autoren 534 Stroke Units an und begründen diese Bezeichnung mit der Kodierung des OPS 8-981 bzw. 8-98b. Allein 92 dieser „Stroke Units“ haben durchschnittlich nur 1 Komplexbehandlung pro Monat (!) kodiert. Das wesentliche Merkmal einer Stroke Unit besteht in der Vorhaltung eines speziell geschulten, interdisziplinären Schlaganfallteams aus Pflegekräften, Therapeuten und Ärzten. Entsprechende Vorhaltungen sind natürlich nur ab einer kritischen Fallzahl wirtschaftlich, ebenso wie die fachliche Erfahrung und der routinierte Umgang mit höheren Fallzahlen zunehmen. Die DSG definiert mindestens 250 TIA/Schlaganfall-Patienten p. a. für die Zertifizierung als Stroke Unit. In Verbindung mit der OPS-Kodierung finden wir dann bundesweit 374 Kliniken. In diesen Kliniken wurden ca. 70 % der TIA/Schlaganfall-Patienten behandelt. Die Bezeichnung „Stroke Unit“ für Stationen, die pro Jahr nur wenige Schlaganfälle behandeln, sollte aus unserer Sicht nicht verwendet werden. Gleichzeitig erscheint uns die historische Aussage, dass 5 Thrombolysen p. a. ein Indikator für ein erfahrenes Zentrum mit Schlaganfallexpertise sind, nicht mehr zeitgerecht.

Die sQB ermöglichen keine direkte Analyse aus der Kombination von ICD und OPS. Nach unserer Einschätzung ist die Kodierung der (neurologischen) Komplexbehandlung und die damit verbundene spezifische Durchführung des Leistungskatalogs für diese OPS ein Qualitätskriterium für die Stroke-Unit-Behandlung. Demnach wurden im Jahr 2010 insgesamt 53 % der I63-Patienten nach Stroke-Unit-Kriterien behandelt (DRG-Statistik). Wir sehen hier eine deutliche Diskrepanz zu der qualitativ ungenauen Aussage, dass 78 % der ischämischen Schlaganfälle auf einer Stroke Unit behandelt wurden.

Die ausschließliche Betrachtung der Thrombolysen, die für eine neurologische FA kodiert sind, ist zwar methodisch aufgrund der Unschärfe der Zuordnung OPS 8-020.8/ICD I63 nachvollziehbar, greift aber u. E. zu kurz. Hiermit wird eine verzerrte Bewertung der Thrombolyserate induziert. Die in FA Innere angesiedelten und teleneurologisch begleiteten Stroke-Unit-Behandlungen sind z. B. allein von 2011 auf 2012 um 38 % angestiegen, die Gesamtfallzahl für die OPS-Kategorie 8-98b belief sich in 2012 auf 24,8 Tsd. Fälle. Gleichzeitig entfielen auf die FA Neurologie in 2010 lediglich 60 % der Fallzahlen für die I63. Die methodische Beschränkung auf die FA Neurologie kann somit z. B. die sehr thrombolysestarken Kliniken des TEMPiS-Projekts nicht erfassen und bildet die sich teilweise sehr dynamisch entwickelnden Realitäten in manchen Regionen nicht ausreichend ab.

Die Ausweisung der Lyseraten auf FA-Ebene ist ebenfalls mit einem erheblichen Bias verbunden. Hierzu zählt, dass z. B. die Fachabteilungszuordnungen von ICD und OPS nicht konsistent sind. Wir finden nach der Systematik der Autoren Thrombolyseraten bis zu 77 % auf FA-Ebene. Dieses halten wir für unrealistisch. Wir halten die Berechnung der Thrombolyseraten auf Krankenhausebene für aussagekräftiger und belastbarer. Auf Basis der DRG-Statistik für 2010 haben wir eine bundesweite Thrombolyserate für Patienten mit ischämischem Schlaganfall von 8,0 % berechnet.

Schließlich wurden leider die i. a. Thrombolysen und die aufstrebende mechanische Thrombektomie (MT) in der Analyse nicht berücksichtigt. Hiermit wird ein zunehmender Teilbereich der Therapie ausgeblendet. Bei vielen früher (z. B. 2008) thrombolysestarken Zentren gehen die Thrombolyseraten deutlich zurück, da die MT parallel zugenommen haben; ein Trend, der zumindest zu keiner Abwertung der Qualität der entsprechenden Behandlungseinheit führen sollte.

Neben den methodischen Einschränkungen sehen wir jedoch einige wichtige Aspekte insbesondere durch die kartografischen Aufarbeitungen abgebildet. Insbesondere die Versorgung in „ländlichen“ Regionen mit zeitkritischem Zugang zur Möglichkeit einer Thrombolysebehandlung ist dringend verbesserungsbedürftig. Zwei mögliche Ansätze fanden wir nach dem Vergleich verschiedener Qualitätsparameter der akuten Schlaganfallversorgung in regional unterschiedlich strukturierten Versorgungskonzepten [3]: Insbesondere strukturverbessernde Maßnahmen wie einheitliche Behandlungsstandards und die Bereitstellung qualifizierter Schlaganfallkompetenz über Telemedizin (TEMPiS Netz) oder große und leistungsfähige neurologische Kliniken in eher ländlichen Strukturen (Ostwestfalen-Lippe) produzieren überdurchschnittliche Qualitätsparamater. In den Ballungsräumen Ruhrgebiet und Berlin waren insbesondere die Thrombolyseraten eher durchschnittlich. Gleichzeitig lässt sich jedoch auch bestätigen, dass ein Zusammenhang zwischen Rate an Stroke-Unit-Behandlung und Thrombolyse besteht (eigene, unveröffentlichte Daten). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass weiterhin Anstrengungen unternommen werden müssen, die Behandlung der Schlaganfallpatienten in vollwertige Stroke Units nach dem DSG-Standard zu holen. Hierdurch wird nachweislich der klinische Verlauf günstig beeinflusst, u. a. durch den vermehrten Einsatz der Thrombolysebehandlungen. Gelingt es uns zudem, die flächendeckende Basisversorgung mit den Zentren der Maximalversorgung zu verzahnen, werden wir im Sinne unserer Patienten eine neue Stufe des Behandlungsstandards erreichen. 78 % der Schlaganfälle auf Stroke Units zu behandeln ist dabei sicherlich ein erstrebenswertes Ziel, ob dies dann auf 534 (zertifizierten) Einheiten geschehen muss, sei unterdessen dahingestellt.

 
  • Literatur

  • 1 Scholten N, Pfaff H, Lehmann HC et al. Thrombolyse des akuten Schlaganfalls – Eine deutschlandweite Analyse der regionalen Versorgung. Fortschr Neurol Psychiatr 2013; 81: 579-585
  • 2 Eyding J, Kitzrow M, Bartig D et al. Versorgungsrealität von Patienten mit ischämischem Schlaganfall in der Metropolenregion Ruhrgebiet: aktueller Stand und Perspektiven einer fachspezifischen Vernetzung. Nervenarzt 2012; 83: 1625-1631
  • 3 Kitzrow M, Bartig D, Krogias C et al. Qualitätsparameter der akuten Schlaganfallversorgung in regional unterschiedlich strukturierten Versorgungskonzepten. Nervenarzt 2013; im Druck