Diabetologie und Stoffwechsel 2014; 9(4): 313-314
DOI: 10.1055/s-0033-1362779
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Ein halbes Jahrhundert Diabetologie – Berufsprobleme bei Diabetikern

Hellmut Mehnert
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Publication Date:
09 October 2014 (online)

Wie schon in einem vorausgegangenen Artikel ausgeführt, gibt es sowohl für Typ-1- als auch für Typ-2-Diabetiker bei Berücksichtigung der modernen Behandlungsmöglichkeiten keinen grundsätzlichen Hinderungsgrund, am Arbeitsleben teilzunehmen. Man darf das allerdings nicht so auslegen, dass Diabetiker alles machen können und – zur Kompensation des Nachteils einer vorliegenden Krankheit – sogar noch mehr tun müssen als Nichtdiabetiker. Dies wird auch ein „Überkompensieren der Erkrankung“ genannt. Andere Patienten hingegen benutzen ihren Diabetes für Ausreden, wann immer sie etwas nicht tun wollen. Damit öffnen sie aber einem Außenseitertum in der Gesellschaft Tür und Tor. Hier muss man einen Mittelweg finden, der letztlich auf die persönliche Zufriedenheit im Arbeitsalltag abzielt. Diabetes ist sicherlich kein offener Makel, er sollte aber auch kein unsichtbarer Makel sein. Im Gegensatz zu dem vor vielen Jahren, etwa im „ABC für Zuckerkranke“ von Bertram empfohlenen Vorgehen soll durchaus mit Arbeitskollegen über den vorliegenden Diabetes gesprochen werden. Es könnten ja während der Arbeit Hypoglykämien eintreten, die eine Fremdhilfe erforderlich machen. Im Hinblick auf die Kenntlichmachung eines Berufsbewerbers beim Arbeitgeber, dass er Diabetiker ist, gehen die Meinungen auseinander. Grundsätzlich allerdings gilt, dass – von bestimmten Berufen abgesehen (siehe unten) – eine freiwillige Aussage zum Vorliegen der Erkrankung nicht unbedingt nötig ist.

Interessant ist es, wenn man die früheren, 50 Jahre zurückliegenden Empfehlungen der Deutschen Diabetes-Gesellschaft zur Berufswahl von Diabetikern vergleicht mit den jetzigen Empfehlungen. Damals hieß es, dass man bei noch bevorstehender Berufswahl von allen Berufen abraten muss, deren Eigenart den Behandlungsprinzipien des Diabetes zuwiderlaufen. Dazu gehören Berufe, die mit vorwiegend sitzender Lebensweise verbunden sind oder einen unregelmäßigen Tagesablauf erfordern (Schichtarbeit u. ä.) sowie solche, die den Umgang mit Lebensmitteln (Koch, Zuckerbäcker usw.) oder eine ständige Infektionsgefährdung mit sich bringen. Bei insulinspritzenden Zuckerkranken verbieten sich danach aber darüber hinaus Berufe, in denen sie sich und ihre Umgebung in Gefahr bringen könnten (Dachdecker, Busfahrer, Lokomotivführer usw.). Auch Diabetikern, - dies gilt nach wie vor - die zunächst ohne Insulin behandelt werden könnten und damit praktisch nicht durch hypoglykämische Reaktionen gefährdet sind, sollte man von solchen Berufen abraten, da sich Entwicklung und Verlauf der Zuckerkrankheit kaum voraussagen lassen. Die psychische Führung des Diabetikers sollte darauf abgerichtet sein, den Patienten stets mit Nachdruck davon zu überzeugen, dass er bei Erfüllung gewisser Bedingungen „in seiner Lebensführung ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft“ sein kann und dass kein Anlaß für ein Gefühl der Minderwertigkeit besteht. Der Diabetiker, der allein auf Grund seiner Krankheit in subalternen Stellungen arbeitet und somit auch sozial verelendet, sollte heutzutage nicht mehr anzutreffen sein.

Im Vergleich zu den früheren Berufskriterien hat sich doch einiges geändert. Es ist durchaus nicht einzusehen, dass der Umgang mit Lebensmitteln bei entsprechender Disziplin des Patienten nicht auch in der Berufswahl möglich ist. Auch Schichtarbeit kann geleistet werden, da im Rahmen der ICT, also der intensivierten Insulintherapie, gegebenenfalls auch in Form der Insulinpumpe, selbst instabile Diabetiker gut geführt werden können.

Kritischer sieht es schon aus bei den angegebenen Berufsgruppen, bei denen der Diabetiker sich selbst oder gar andere in Gefahr bringen könnte. Man sollte den angegebenen Berufswünschen, wenn eine Berufswahl noch bevorsteht, entgegentreten (s. o.), kann aber in der Regel, wenn der Beruf bereits ausgeübt wird, im Hinblick auf die weitere Berufstätigkeit des Diabetikers großzügiger sein. Sicherlich wird ein instabiler Diabetiker nicht Lokomotivführer oder Pilot sein dürfen, ebenso gelten strengere Einschränkungen für Busfahrer. Sich selbst sollten die Patienten nach Möglichkeit nicht gefährden, was im Baugewerbe oft der Fall ist und dann zu einer entsprechenden anderen Tätigkeit führen sollte.

Modernere Ansichten wurden in einer Checkliste vor einigen Jahren zusammengefaßt und enthielten für Menschen mit Diabetes hinsichtlich Tätigkeiten in risikoreichen Berufen folgende Hinweise: Zunächst sollte die Zusammenarbeit von Patient mit Hausarzt oder Diabetologen und Betriebsarzt gewährleistet sein. Die gute Stoffwechselführung soll angestrebt werden, entsprechend den vereinbarten Zielwerten unter Benützung der Blutzuckerselbstkontrolle des Diabetikerpasses. Hier sollten plausible Meßprotokolle im Blutzuckertagebuch vorliegen. Die Frage ist zu klären, ob die Möglichkeit besteht, am Arbeitsplatz den Blutzucker zu messen und Insulin zu spritzen. Die Zuverlässigkeit des Patienten steht, wie gesagt, ganz vorn bei der Beurteilung der beruflichen Tätigkeit. Es stellt sich die Frage, ob der Patient eine geeignete Schulung besucht hat und womöglich an einem Hypoglykämiewahrnehmungstraining mitgearbeitet hat. Zusätzliche Stellungnahmen z. B. von Augenarzt, Angiologen und Neurologen sollten vorliegen, dass keine relevanten Folgeschäden vorhanden sind und es bislang nicht zu schweren Unterzuckerungen gekommen ist. Gerade die gute Stoffwechselführung wird ja nicht selten erkauft mit Hypoglykämien, die aber keinesfalls – vor allem, wenn sie der Fremdhilfe bedürfen – hingenommen werden können. Sicher sind für diese Fragen auch die Diabetesdauer und die Art der Behandlung sowie natürlich die Folgeerkrankungen von Bedeutung.

Wieder tut sich die Frage auf, ob Arbeitgeber und Kollegen in jedem Fall wissen, was zu tun ist. Hier stellt sich die Frage, ob bei leichten Unterzuckerungen auch schon Gefahren für Dritte bestehen. Kann die Arbeit unterbrochen werden, wenn die Therapie angepaßt werden muß, z. B. bei den erwähnten Hypoglykämien? Wird der Patient alle Halbjahr bis Jahr von einem entsprechend erfahrenen Diabetologen untersucht? Sicherlich zur Minimierung von Risiken trägt die positive Beantwortung der Frage bei, ob das Unternehmen sorgfältig mit arbeitsmedizinischen Informationen durch den Betriebsarzt versorgt wird.

Abschließend sei betont, dass die individuelle Risikoabschätzung von Gefährdungen am Arbeitsplatz durch europäisches Recht vorgegeben und in Deutschland durch das Arbeitsschutzgesetz von 1996 zwingend vorgeschrieben ist. Es ist aber keineswegs mehr in das Belieben des Beurteilers gestellt, sich bei der Beurteilung eines Risikos an pauschalen und undifferenzierten Berufslisten zu orientieren und danach die berufliche Eigenschaft zu bemessen. Adäquat ist vielmehr eine Risikobetrachtung unter dem Aspekt eines „akzeptablen“ Risikobereichs, also einem Tätigkeitsfeld, in dem man mit möglichst angemessenem Aufwand und geeigneten Mitteln Gefährdungen weitgehend eliminiert oder reduziert. Erforderlich ist dazu eine Kenntnis des Arbeitsplatzes und der Tätigkeit durch die beurteilende Person und eine effiziente Zusammenarbeit aller, die am Integrations- oder Rehabilitationsprozeß beitragen. Nicht selten wird fälschlich das Risiko einer Unterzuckerung generell mit dem Unfallrisiko gleichgesetzt. Darüberhinaus wird häufig stillschweigend als Forderung von einem sog. „Null-Risiko“ ausgegangen, wenn die berufliche Eignung von Menschen mit Diabetes beurteilt werden soll (vielleicht passiert ja etwas!). Hierzu ist zu sagen, dass das Leben als solches sowieso nicht mit einem Nullrisiko vereinbar ist, so dass man daher von Diabetikern im Arbeitsumfeld eine Eliminierung nahezu jeglichen Risikos nicht fordern kann. Dies wäre eine Diskriminierung, da man ja gleiche Gefährdungen bei anderen Personen oder Tätigkeitsbereichen durchaus akzeptiert.

All diese und andere sozial- und arbeitsrechtiche Aspekte bei Diabetes mellitus sind in einem sehr lesenswerten Artikel von O. Ebert in „Diabetologie in Klinik und Praxis“, 6. Auflage, Georg Thieme Verlag Stuttgart New York, 2011, festgehalten.