physioscience 2014; 10(3): 89-90
DOI: 10.1055/s-0034-1384960
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Eine selbstkritische Reflexion

U. Wolf
Further Information

Publication History

Publication Date:
04 September 2014 (online)

Seit gut 10 Jahren werden in Deutschland nunmehr forschungsorientierte Master-Studiengänge in Physiotherapie angeboten. Dennoch scheint die Physiotherapie ihrem Ziel, eine akademische Profession zu werden, kaum näher gekommen zu sein. Noch immer dominieren Konzeptnamen die Curricula und den Weiterbildungsmarkt. Die Wirksamkeit der Physiotherapie wird nicht infrage gestellt, es fehlen aber immer noch sichere Belege für die Wirksamkeit der meisten mit Namen belegten Konzepte und die Richtigkeit der theoretischen Grundlagen dieser Therapieoptionen. Weiterhin werden anstelle einer fallbezogenen Betrachtung nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Praxis Glaubenskriege zwischen den therapeutischen Schulen geführt, die seit den 80er-Jahren kaum an Intensität verloren haben.

Woher rührt die feste Überzeugung so vieler Physiotherapeuten, der alleinige und alternativlose Initiator einer beobachteten Heilung zu sein? Was wissen wir über die Wirkung der Therapie, an die wir so fest glauben?

Am Anfang der Entwicklung einer Therapieform steht meist eine historisch mehr oder weniger verbürgte Beobachtung, bei der ein kausaler Zusammenhang zwischen einer Manipulation und einer vom Patienten als positiv wahrgenommenen Veränderungen eines Krankheitszustands hergestellt wird. Diese Manipulation muss dabei nicht unbedingt eine therapeutische Intervention sein. Vielmehr handelt es sich meist um übertragene physikalische Gesetzmäßigkeiten (z. B. McMillan), ein Zufallsereignis (z. B. Dicke), eine intuitive Handlung (z. B. Knott) oder gar einen vermeintlichen Behandlungsfehler (z. B. McKenzie).

Lässt sich die positive Reaktion wiederholt auslösen, so wird ein theoretisches Konstrukt entwickelt, welches in der Lage ist, das Zustandekommen der Wirkung zu erklären. An dieser Stelle kommen dann meist unterstützende Experimente zur Anwendung, die zum Nachweis des angenommenen Wirkungsmechanismus dienen sollen. Sofern dieser experimentelle Nachweis gelingt, werden die an einem klinischen Fall mit einem bestimmten Krankheitsbild beobachteten Phänomene zu Gesetzmäßigkeiten erklärt und verallgemeinert, was das Indikationsspektrum erweitert. Im Zuge der anschließenden klinischen Überprüfung lässt sich meist die Verbesserung klinisch relevanter Outcome-Parameter zeigen, jedoch erweist sich die untersuchte Maßnahme in der Regel zwar als anderen Verfahren gleichwertig, im direkten Vergleich jedoch nicht als überlegen. Infolge dieser Erkenntnis wird forschungsgestützt die Indikation für die betreffende Maßnahme wieder enger gesteckt: Man versucht gezielt Personengruppen zu identifizieren, bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie von der Therapie besonders profitieren. Zu diesem Zwecke werden Clinical Prediction Rules entwickelt und anschließend dahingehend überprüft, ob und in welchem Bereich für die Therapieform eine Überlegenheit gegenüber anderen therapeutischen Ansätzen besteht. Danach werden die diagnostischen und therapeutischen Bestandteile des Verfahrens standardisiert und entsprechend gelehrt.

Prinzipiell stellt jede Erkrankung im Sinne einer Abweichung von der Norm aber auch einen funktionellen Bildungsreiz dar und löst daher eine Anpassungsreaktion aus. Diese kann z. B. im Rahmen des physiologischen Zellauf- und -abbaus (cellular turn-over) der betroffenen Gewebe, innerhalb physiologischer Regenerations- und Heilungsprozesse oder infolge peripherer und zentralnervöser Lernprozesse zu einer spürbaren Verbesserung der Krankheitssituation oder gar zu einer Restitutio ad integrum führen, ohne dass überhaupt eine therapeutische Intervention stattfand.

Erfolgt jedoch eine Therapie, so vermischen sich die Effekte beider Einflussgrößen. Um die eingetretene Verbesserung dann tatsächlich auf eine Therapie zurückführen zu können, wäre es notwendig, den Effekt und das Ergebnis der Selbstheilung zu kennen. Man müsste gewissermaßen den Effekt der Selbstheilung vom Gesamteffekt abziehen. Durch die Tatsache, dass Leitlinien selten klare Empfehlungen für eine spezifische physiotherapeutische Intervention aussprechen, wird erkennbar, dass sich bei einer wissenschaftlichen Evaluierung der Therapie häufig nur unzureichende Effekte auf diese Therapie alleine zurückführen lassen.

Wie wichtig und wirksam die Interaktion zwischen Therapeuten und Patienten ist, belegten zahlreiche Placebo-Studien. Das Erkennen hilfreicher Kognitionen und fördernder Emotionen sowie eine diesbezügliche Führung der Patienten sind schon im Rahmen von Beratungen wirksam, ohne dass eine Therapie erfolgt. Dies wurde insbesondere am Krankheitsbild des chronischen Rückenschmerzes eindrucksvoll belegt. Die psychologische Wirkung und die therapeutische Zuwendung sind wichtige Anteile jeglicher physiotherapeutischer Intervention und sind ebenfalls nicht von der Wirkung der Therapie selbst zu trennen.

Verschiedene weitere Faktoren unterstützten die Therapie und die Selbstheilung: Beispielhaft seien nur die Ernährung, das Level der körperlichen Aktivität, die allgemeine Ausdauer und Fitness sowie energetische, klimatische und Umweltaspekte genannt. Auch hier liegt ein Zusammenhang zwar auf der Hand, es fehlen jedoch Untersuchungen im physiotherapeutischen Kontext (abgesehen von der überwältigenden Evidenz für körperliche Aktivität), die den Anteil der genannten Faktoren an der Wirkung der Physiotherapie erfassen. Hinzu kommt, dass die in der Therapie gesetzten Reize nicht so spezifisch wirken, wie es das jeweilige der Maßnahme zugrunde liegende theoretische Konstrukt nahelegt. Die Reize wirken vielmehr immer auf mehrere Strukturen, Funktionen und Systeme. Wir lösen daher immer auch Reaktionen aus, die wir überhaupt nicht kennen und entsprechend auch nicht berücksichtigen.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Kenntnisse über die Wirkung von Physiotherapie unzureichend sind. Die Überlegenheit eines einzelnen therapeutischen Konzepts lässt sich nicht erkennen. Physiologische Heilungsprozesse sowie bekannte und unbekannte begünstigende Faktoren, vor allem psychologische Aspekte, haben einen großen Anteil an der Wirkung der Physiotherapie. Es ist unklar, wie groß dieser Anteil ist oder ob er nicht in bestimmten Szenarien alleine die beobachtete Wirkung ausmacht.

Jeder Leser mag an dieser Stelle im Stillen überprüfen, wie die von ihm angewandten Methoden im Lichte dieser Überlegungen zu bewerten sind.

Angesichts derartig umfangreicher Wissenslücken über Physiotherapie verbietet es sich geradezu, dass die verschiedenen physiotherapeutischen Konzepte Alleinstellungsmerkmale definieren und weiterhin trotz fehlender Evidenz ihre Überlegenheit postulieren, anstatt gemeinsam mit anders ausgebildeten Kollegen übergeordnete Wirkprinzipien der praktizierten Ansätze zu suchen. Die bewährten Konzepte sollten sich selbst einer systematischen Überprüfung unterziehen um sich weiterzuentwickeln und ihre Wirksamkeit für zu definierende Patienten(sub-)gruppen gezielt steigern zu können. Der Einfluss fördernder Faktoren ist gründlich zu erforschen, damit Physiotherapeuten sie gezielt nutzen können.

Wir brauchen also eine physiotherapeutische Grundlagenforschung!